Jede dritte Familie in Russland hat Internetanschluss. Foto: http://www.flickr.com/photos/dkpto/
Ende der 90er Jahre zählte das russische Internet knapp über drei Millionen reguläre Nutzer. Damals galt das Internet als das Medium der Zukunft, nicht nur im größten Flächenstaat der Erde. Die Zukunft ist nun da, laut den Vereinten Nationen nutzen mittlerweile rund 60 Millionen User pro Monat in Russland das Netz. Innerhalb dieser Zeit hat sich nicht nur die Nutzerzahl verändert, sondern die ganze Netzlandschaft in Russland mit Blogdiensten wie Livejournal oder Sozialen Netzwerken wie vkontakte. Sie allein ziehen etwa 23 Millionen Besucher im Monat an. Unverändert dagegen blieb die Gesetzgebung für das Internet. Denn rechtlich fällt es unter das „Gesetz über die Regulierung der Medien“ aus dem Jahr 1991. Seitdem erfolgte keine Anpassung an die Anforderungen der neuen Medien. Das RU-Net aber ging erst drei Jahre später an den Start. Das Wort „Internet“, nicht einmal eine Erklärung dessen, was das sein soll, taucht im Gesetzestext nicht auf. Lediglich im Artikel 24 steht etwas von so genannten „anderen Mitteln der Masseninformation“. Dazu gehört auch das Internet.
Das Netz gilt gemeinhin als Spielwiese von Meinungspluralismus — auch in Russland. Klassischen Medien haftet dagegen der Ruf der Abhängigkeit von der Regierung an. Russische Zeitungen und Fernsehsender seien zu 80 Prozent vom Staat finanziert, sagt Pawel Gussew. Er ist der Leiter der Kommission für Pressefreiheit in der russischen Bürgerkammer. Im Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe sich der Staat nicht in das neue Medium eingemischt, schreibt Viktoria Brunmeier in ihrem Buch „Das Internet in Russland“. Laut ihren Ausführungen brachte diese Konstellation in den 90er Jahren zwar eine große Meinungsvielfalt im neuen Medium mit sich, hemmte aber eine schnellere Entwicklung. Die nötigen zusätzlichen staatlichen Förderprogramme zur Informatisierung des Landes wie „Elektronnaja Rossija“, das 2002 zu diesem Zweck in Kraft trat, hätten gefehlt.
Mit der größeren Verbreitung des Netzes stellt sich auch die immer drängendere Frage nach der Rechtssicherheit der Nutzer. Wie wird mit Gewaltaufrufen im Netz umgegangen? Wer haftet für eigene Inhalte und Aussagen, und wer für fremde auf der eigenen Seite? Mit der Rechtssicherheit und dem Sperren von Inhalten liegt aber auch die Frage nach der Meinungsfreiheit auf dem Tisch. Und sie ist im Artikel 29 der russischen Verfassung verankert. Zumindest auf dem Papier.
Der Oberste Gerichtshof Russlands ging im vergangenen Juni solche Fragen mit einem einstimmigen Beschluss an, dem ersten zur Auslegung des Medienrechts in der postsowjetischen Rechtsgeschichte. Laut Andrej Richter, dem Direktor des Moskauer Instituts für Medienrecht und Politik, handelt es sich dabei um einen „Meilenstein der Rechtsprechung“. Das Gericht veröffentlichte einen Anwendungshinweis für das „Gesetz zur Regulierung der Massenmedien“ von 1991. Andrej Richter findet es beachtenswert, dass der Beschluss sich noch einmal auf die Prinzipien der Meinungs- und Informationsfreiheit aus Artikel 29 der Verfassung, zudem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und auf den Beschluss der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bezieht. Ein zentraler Punkt des Beschlusses ist, dass eine Pflicht zur Registrierung von Webseiten nicht besteht. Denn laut Oberstem Gericht gelten Internetseiten nicht als Massenmedium. Online-Massenmedien fehle schlicht das physische Produkt zur Verbreitung, so die Richter.
Registriert sich ein Online-Medium freiwillig, gelten alle journalistischen Rechte und Pflichten. Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor kann bei Verstößen Verwarnungen aussprechen. Bei zwei Verwarnungen droht die Abschaltung der Seite. Aber auch Inhaber von nicht registrierten Seiten sind haftpflichtig. Allerdings unterliegen sie nicht der Rechtsprechung für Massenmedien, sagt Andrej Richter.
Der Beschluss — allerdings betrifft er nur inländische Online-Medien — stellt auch fest, dass Einschränkungen der Informationsfreiheit nur durch ein Föderationsgesetz zulässig seien. Regionalgesetze, Erlässe des Präsidenten oder schlichte Verordnungen der Regierung dürfen Journalisten in ihrer Arbeit nicht einschränken. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) betrachtet diesen Beschluss als Fortschritt zur Angleichung mit internationalen Standards. Im Januar erklärte Präsident Dmitrij Medwedew auf dem Davoser Wirtschaftsforum, dass es keine Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Internet geben werde. Wie es im Umgang mit ausländischen Online-Diensten aussieht, ist weiterhin ungeklärt. Der Inlandsicherheitsdienst FSB stuft Services wie Gmail und Skype als Bedrohung der nationalen Sicherheit ein und will deren Nutzung einschränken. Der Kreml dementierte.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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