Hightech trifft Zarenprunk

Hier sang Fjodor Schaljapin, hier tanzte Maja Plissezkaja, hier schlägt das Herz der russischen Kultur. Sechs Jahre hat die aufwendige Restaurierung des Bolschoi gedauert.

Die warme Maisonne lässt die frisch renovierten Kalksteinsäulen an der Frontseite des Bolschoi hell erstrahlen, von hoch oben grüßt Apollon auf seiner Quadriga. Viele Moskauer verbringen ihre Mittagspause im Park vor dem 
herausgeputzten Theater, und fast scheint es, als sei es längst schon wieder eröffnet. Aber der Eindruck täuscht: Erst ab dem 28. Oktober, nach über sechs Jahren, wird das weltberühmte Opern- und Balletttheater seine Tore öffnen, erst dann werden wieder „Schwanensee“, der „Nussknacker“ und „Boris Godunow“ zu sehen und zu hören sein.

Foto: Ruslan Sukhushin

Zurück ins 19. Jahrhundert

Derweil polieren zwei Arbeiter auf einem Kran neben den Säulen eine Gedenktafel: „LENIN“ steht dort und dass der Führer des Weltproletariats hier 1922 die letzte Rede vor seinem Tod hielt. Es ist eine der wenigen Reminiszenzen an die sieben Jahrzehnte sowjetischer Geschichte, die das Bolschoi erlebte. Ansonsten wird bei den Renovierungsarbeiten die Sowjetzeit übersprungen und auf den Originalbau aus dem 19. Jahrhundert Bezug genommen. Auch die kostbare Inneneinrichtung wurde ganz im Sinne des Klassizismus rekonstruiert: Sowjetische Wappen wurden entfernt, an deren Stelle zaristische wiedereingesetzt, der sowjetische Bodenbelag herausgerissen, an dessen Stelle Eiche verlegt. 

Das Bolschoi wurde 1776 gebaut, 1853 brannte es jedoch vollständig aus. Das klassizistische Gebäude, das die Welt heute kennt, ist das Werk des russisch-italienischen Architekten Alberto Cavos. Für den Sohn eines Komponisten stand beim Bau des 
Theaters die Akustik an vorderster Stelle: Er verkleidete die Wände mit Resonanzholz, auch für Decke und Boden wählte er Holz; Verzierungen wie die Atlanten wurden aus Pappmaschee hergestellt. Deshalb hatte der Saal nicht nur die Form einer Violine – lange Jahre klang er auch so.

Die Restauration des Gebäudes war im Jahr 2005 längst überfällig.

Zitat

Michail Sidorow, Sprecher von Sanierer Summa Capital

" Es bestand die Gefahr, dass das Gebäude zusammenbricht. Erst wenn alles fertig ist und alle Rechnungen bezahlt sind, wissen wir, was es gekostet hat”.

In der Sowjetunion hatte die Zeit für eine grundlegende Erneuerung gefehlt, weil neben Oper und Ballett das Bolschoi häufig auch für Parteiversammlungen genutzt wurde. Viele der ursprünglich hochwertigen Materialien waren durch billigere ersetzt worden – und nicht nur die Akustik litt darunter.

„In den Hauptwänden hatten sich bis zu 30 Zentimeter breite Risse gebildet“, 
erklärt Michail Sidorow von Summa Capital. Sein Unternehmen leitet seit 2009 die Arbeiten. „Es bestand die Gefahr, dass das Gebäude zusammenbricht.“ 

Der erste Schritt der Rekonstruktion war deshalb die Stabilisierung der Bausubstanz: 7000 Stahlpfähle wurden in den Boden 
gerammt, dann das alte Fundament entfernt. Erst im September 2009 war das neue Fundament 
fertig, sodass auf die Stahlpfähle verzichtet werden konnte. Seitdem ist die Baustelle, keine fünf Gehminuten vom Kreml entfernt, ein Ameisenhaufen. Bis zu 3200 Menschen sind gleichzeitig bei der Arbeit: Hier vergolden Stukkateure die Ornamente an den 
Balkonen, dort werden die wiederhergestellten seidenen Wandteppiche angebracht, unter der Erde wird noch richtig gebaut: Es entsteht ein neuer Konzertsaal, den Orchester und Chor auch für Proben nutzen können. Neu hinzugekommen ist auch die mit 21 mal 21 Metern europaweit größte hydraulisch betriebene Bühne von Bosch-Rexroth. An ihrer Rampe wurde der Orchestergraben 
vergrößert und bietet nun Platz für 130 Musiker. Zugunsten des Komforts reduzierte man die Zahl der Plätze im Hauptsaal von 2100 auf 1720.

Medwedjews Machtwort 


Mit 20 Jahren Verspätung ist das glanzvoll restaurierte Bolschoi-Theater das Symbol schlechthin für russische Kultur. Gleichzeitig steht die Geschichte seiner Rekonstruktion für die notorischen Probleme eines Systems, in dem 
vieles nur durch ein Machtwort von ganz oben funktioniert. Nach Schließung des Theaters 2005 
gerieten die Restaurierungsarbeiten ins Stocken, weil Regierungsbeamte, Moskaus Bürgermeister und Chefarchitekt Nikita Schangin sich um Kompetenzen und Konzeptionen stritten. 2008 verließ Schangin das Projekt, und erst Dmitri Medwedjew sorgte für 
Bewegung: Im Frühjahr 2009 setzte er höchstpersönlich einen engen Mitarbeiter ein, um die Fertigstellung des Theaters bis 2011 zu gewährleisten. Im selben Jahr wurde gegen mehrere Beteiligte ein Verfahren wegen Veruntreuung von Geldern eingeleitet.

Ob die Restaurierung am Ende 500 Millionen oder 1,5 Milliarden Euro kosten wird, wagt momentan keiner zu sagen. Sehr russisch klingt die Meinung von Michail Sidorow: „Erst wenn alles fertig ist und alle Rechnungen bezahlt sind, wissen wir, was es gekostet hat.“

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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