Profilierung statt Allgemeinbildung

Blumen statt Schultüte: Die Erstklässler folgen ihrer Lehrerin unter dem Beifall der Eltern. Foto: Photoxpress

Blumen statt Schultüte: Die Erstklässler folgen ihrer Lehrerin unter dem Beifall der Eltern. Foto: Photoxpress

Die Leistung der russischen Schüler liegt unter dem PISA-Durchschnitt. Die Regierung will das degradierte Schulsystem reformieren. Und erntet dafür von Lehrern und Eltern Kritik.

Die Affen gingen immer tiefer ins Wasser, entfernten sich immer weiter vom Ufer, schwammen und tauchten nach Nahrung. Aus ungeklärten Gründen kehrten einige zum Festland zurück. So entwickelten sie den aufrechten Gang. Andere gewöhnten sich an das Wasser, blieben im Meer und wurden zu Delfinen.“

Diese Version der Evolution, die in einem kürzlich erschienenen Lehrbuch für fünfte Klassen nachzulesen ist, brachte russische Eltern dazu, sich bei Präsident Dmitri Medwedjew über die 
Inkompetenz des Bildungsministeriums zu beschweren. Schützenhilfe erhielten sie von den 
Lehrern. „In letzter Zeit sind zweifelhafte Fächer eingeführt worden. Dieser Unsinn raubt uns Unterrichtsstunden für die Grunddisziplinen. Man braucht sich nicht zu wundern, dass die Qualität der Bildung permanent sinkt“, beanstandet der Russischlehrer Sergej Rajski aus Moskau. 


Rajski ist 41 Jahre alt und damit unter seinen Kollegen vergleichsweise jung. Das Durchschnittsalter eines Lehrers an russischen Schulen liegt bei 48 Jahren, jeder fünfte Pädagoge ist Rentner -  und arbeitet trotzdem weiter. Wegen des niedrigen Gehalts von durchschnittlich 340 Euro monatlich haben Schulen mit pädagogischem Nachwuchs zu kämpfen. 


Zu alt und schlecht bezahlt

Die Überalterung der Lehrer sowie die schlechten finanziellen Rahmenbedingungen gehören zu den Hauptursachen für die fortgesetzte Verschlechterung der schulischen Bildung im Land.


Bildung ist Sache der Zentralregierung, das verbindliche Schulprogramm wird aber auf Föderationsebene beschlossen und in Kraft gesetzt. Die obersten Bildungsbeauftragten versuchen nun, in den staatlichen Schulen die Standards von Privatschulen einzuführen. Nach den erschreckenden Ergebnissen der PISA-Studie kündigte Dmitri Medwedjew im Februar 2010 eine Schulreform an. „Die Schüler werden gezielt in kleinere Forschungsaufgaben miteinbezogen, damit sie lernen, kreativ und selbstständig zu denken und eigene Entscheidungen fällen zu können“, erklärte er.


Umfrage 

Kreatives Denken


Die Hauptidee der Reform ist demnach die Individualisierung von Bildung. Mit Beginn des nächsten Schuljahrs wird die Reform bereits in der Gesamtstufe (erste bis neunte Klasse) greifen. Die Vermittlung von Kenntnissen, 
Fähigkeiten und Fertigkeiten soll nicht mehr nur im Unterricht stattfinden: Zehn Stunden pro Woche werden die Schüler 
zukünftig mit Exkursionen und Anschauungsunterricht an 
diversen Kulturstätten des Landes verbringen.

Zudem sollen die Gehälter der Lehrer noch in diesem Jahr um 30 Prozent steigen. „Die Schulen erhalten mehr Vollmachten, ihr Unterrichtsprogramm an den Wünschen der Schüler auszurichten“, konstatiert Irina Abankina, Direktorin des Instituts für Bildungsentwicklung an der Hochschule für Ökonomie in Moskau.

Künftig können sich die Schüler ihren Unterricht aus sechs Fächern selbst zusammenstellen und sich dabei zwischen zwei Niveaustufen – „Basiswissen“ und „vertieftes Wissen“ – entscheiden. Mindestens vier der sechs Fächer müssen sogenannte „Profilfächer“ sein, in denen die Schüler am Ende der elften Klasse eine standardisierte Abschlussprüfung ablegen. Diese 2009 eingeführte Prüfung berechtigt ähnlich wie das Abitur die Absolventen zum Eintritt in die Hochschule. Zuvor hatte jede Universität in Russland 
eigene Aufnahmeprüfungen.

Ein naturwissenschaftlich wenig begabter Schüler muss jetzt nicht mehr Chemie, Physik und Biologie einzeln belegen, sondern wählt den Komplexkurs „Naturwissenschaft“, der die drei Fächer integrativ vermittelt. Als Profilfach könnte er stattdessen beispielsweise Literatur und Kunstgeschichte wählen.

Doch die Neuerungen, die das russische Schulsystem an europäische Modelle annähern sollen, lösten heftige Proteste in der Bevölkerung aus. Eltern und Lehrer befürchten, dass mit der Reform die zu Sowjetzeiten verbreitete klassische vielseitige Bildung zu Grabe getragen werde.


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Ende der klassischen Bildung?


Irina Abankina hält dem entgegen: „Der Bildungsstandard der Oberstufe baut darauf auf, dass breite Kenntnisse in den Grundfächern vorhanden sind.“

Ein Problem, das die Reform nicht löst, ist der Fremdsprachenunterricht: In den staatlichen Schulen beginnt er (zumeist mit Englisch, seltener Deutsch) ab der dritten Klasse mit zwei Wochenstunden. Die Schüler pauken die Grammatik, sie lesen und übersetzen Texte aus dem Lehrbuch, mündliche Praxis hingegen gibt es kaum. Nur Schüler von Privatschulen lernen Fremdsprachen wirklich gut. 


Schulwesen

Laut Gesetz ist der Schulunterricht kostenlos, Lehrbücher eingeschlossen. Die Eltern bezahlen lediglich für das Essen und die Uniformen. Insgesamt gibt es 48 809 staatliche und 665 private Schulen. In Russland werden die Kinder mit sieben Jahren eingeschult, das Schuljahr dauert vom 1. September bis zum 31. Mai. Nach der neunten oder elften Klasse absolvieren sie das staatliche Einheitsexamen in Russisch, Mathematik und zwei Wahlfächern. Letzteres berechtigt zur Aufnahme 
eines Studiums.

Ein weiteres Problem ist der weiterhin autoritäre Charakter der Schule. Der einzige Unterschied zum sowjetischen Schulsystem besteht darin, dass seit dem Zusammenbruch der UdSSR Dissidenten-Literatur und alternative Ansichten zur jüngsten Geschichte des Landes diskutiert werden. Die Unterrichtsform aber hat sich nicht verändert: Die Lehrer tragen den Stoff frontal vor, die Schüler wiederholen das Gehörte, einem Lehrer zu widersprechen gilt als ungehörig. „Der Grad des Autoritären ist heute niedriger, aber ein partnerschaftliches Unterrichtsmodell, bei dem Lehrer und Schüler auf Augenhöhe miteinander sprechen, haben wir noch lange nicht. Zwar stellt der Lehrer keine unbedingte Autorität mehr dar und muss sich von Seiten der Schüler Grobheiten gefallen lassen, doch schafft er es nicht, Teamarbeit in der Klasse zu organisieren, damit beide Seiten wirkliches Interesse am Lernen haben. Da gibt es noch viel zu tun“, sagt Irina Abankina.

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