Seit 1998 ist Russland Teilnehmer des G8-Gipfels. Foto: ITAR-TASS
In den 90-er Jahren galt Russland als hinsichtlich seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung als niedrig entwickelt; war gemessen an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und am Pro-Kopf-Einkommen einfach nur „arm“. In den Folgejahren erarbeitete sich Russland den Status eines Schwellenlandes, das traditionell zwar noch zu den Entwicklungsländern zählt, aber nicht mehr durchweg deren typische Merkmale, wie extreme Einkommensunterschiede, hohe Arbeitslosigkeit, passive Handelsbilanz oder niedrige Investitions- bzw. Sparquote, aufweist.
Im Gegensatz zu ehemaligen Kolonien, wie Brasilien oder Indien, unterscheidet sich Russland dadurch, dass sein Entwicklungsdefizit völlig andere historisch-kulturelle Ursachen hat, denn der neue Staat durchläuft typische Transformationsprobleme beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Außerdem besitzt Russland ein hoch gebildetes Humankapital, eine ausdifferenzierte Industriestruktur sowie ein hohes technologisches Entwicklungspotential. Dazu kommt, dass Russland noch immer militärische und politische Großmacht und ein Schwergewicht auf dem Weltenergiemarkt ist.
Damit unterscheidet es sich deutlich von den „normalen“ Entwicklungs- und Schwellenländern. Das findet seinen Ausdruck darin, dass Russland Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und seit 2006 Mitglied der Staatengruppe der G-8 ist, nachdem es zuvor Ständiger Gast der G-7 war.Gegenwärtig hat Russland den Status eines Beitrittskandidaten für die OECD erreicht, während sich Brasilien, China, Indien, Indonesien und Südafrika mit dem Status eines Partners für eine verstärkte Zusammenarbeit begnügen müssen.
Aus Sicht der Europäischen Union bestehen traditionell und aus Gründen der geographischen Nähe zu Russland besonders enge Wirtschaftsbeziehungen, die sich in der Entwicklungspolitik der EU niederschlägt. Sie umfasst neben ökonomischen Hilfeleistungen für die Entwicklungsländer auch die Handels-, Außen- und Sicherheitspolitik und verfolgt die Förderung der nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, der harmonischen und schrittweisen Eingliederung der anderen Länder in die Weltwirtschaft sowie die Bekämpfung der Armut vor Ort. Auf diese Weise soll gleichzeitig zur Fortentwicklung und Festigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie zur Wahrung der Menschenrechte in den anderen Ländern beitragen werden. Zentrales Instrument ist für die EU das Allgemeine Präferenzsystem (APS), das weitgehende Zollbefreiung für Importe vorsieht.
Doch die Krise des Euro veranlasst die EU zum Sparen. Deshalb überrascht die Idee nicht, für Russland die bevorzugten Handelsbedingungen wieder abzuschaffen, die in den Neunzigerjahren eingeführt wurden, um die Entwicklung Russlands auf dem Weg zu einer freien Marktwirtschaft zu unterstützen. Damit würde der Status „Schwellenland“ für Russland aufgehoben und anerkannt, dass das größte Land der Erde ein moderner Industriestaat geworden ist.
Dieser Vorschlag ist bisher das griffigste Beispiel dafür, dass sich die Weltwirtschaftsordnung ändert. „Das globale Wirtschaftsgleichgewicht hat sich enorm verschoben“, äußerte EU-Handelskommissar Karel de Gucht, Noch haben 176 Länder Anspruch auf die Sondertarife, die 4 Prozent des gesamten EU-Handelsvolumens ausmachen. Nach den jüngsten Vorschlägen will die EU rund 80 Länder von der Liste streichen, darunter relativ wohlhabende Länder wie Russland, Malaysia, Saudi-Arabien oder Katar“.
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Das ist einleuchtend, denn die EU ist der bei weitem größte Handelspartner Russlands, und das Handelsvolumen ist im Lauf des letzten Jahrzehnts rasch gewachsen. Im Jahr 2010 stammte fast die Hälfte der russischen Exporterlöse aus der EU, nachdem das Handelsvolumen zwischen 2000 und 2010 von 66 auf knapp 300 Milliarden US-Dollarmehr als das Vierfache zunahm.Das russische Pro-Kopf-Einkommen hat sich im letzten Jahrzehnt fast verzehnfacht auf nunmehr 15.900 US-Dollar. Nach dem jüngsten Human Development Index Report der Vereinten Nationen gilt Russland als „entwickeltes Land mit mittlerem Einkommen“.
Westeuropäische Unternehmen reagieren denn auch auf den Anstieg des verfügbaren Einkommens, indem sie nach Russland drängen und vom rasch wachsenden Verbrauchermarkt profitieren. So soll es in den nächsten fünf Jahren zu einem der größten Automobilmärkte Europas werden. Der deutsch-russische Handelsumsatz erhöhte sich im Jahr 2010 um knapp ein Drittel auf 56 Milliarden US-Dollar. Dies entspricht ungefähr dem gesamten russischen Außenhandel von vor anderthalb Jahrzehnten.
Bis zum 1. Januar 2014, dem Zeitpunkt, ab dem die neue Regelung eingeführt werden soll, erhalten die demnächst nicht mehr begünstigten Länder Gelegenheit, sich durch bi- oder multilaterale Freihandelsabkommen alternative Zugeständnisse zu sichern.Während die Ukraine heftig für einen Freihandelsvertrag mit der EU antichambriert, konzentriert sich Russland in erster Linie darauf, eine eigene Freihandelszone mit Kasachstan und Weißrussland im Rahmen einer Zollunion auszubauen, und der Kreml bekundet weiterhin sein Interesse, der Welthandelsorganisation (WTO) beizutreten.
Nach dem neuen, von de Gucht vorgeschlagenen EU-Plan können Länder, „die von der Weltbank in drei aufeinanderfolgenden Jahren nicht als Staaten mit gehoben mittlerem bis höherem Einkommen eingestuft werden“, jedoch weiterhin die ASP-Vorzüge genießen.
Selbst wenn die EU ihren Vorschlag umsetzt und Russland die Exporthilfen verliert, wird das nur bedingt Folgen für den russischen Außenhandel haben. Denn die russischen Exporte beruhen hauptsächlich auf Rohstoffen, darunter Erdöl und Erdgas, dessen Absatz sich im ersten Quartal dieses Jahres um 22 Prozent auf 112,8 Milliarden US-Dollar erhöhte.
Doch während sich die Wirtschaft zu erholen beginnt und die Exporte boomen, nehmen auch die Importe zu, hauptsächlich die von Industriegütern und Konsumartikeln. Die Importe sind mittlerweile auf 60,2 Milliarden US-Dollar – doppelt so viel wie ein Jahr zuvor – gestiegen. Auch das ist ein Indiz dafür, dass die Russische Föderation in der Familie der Industriestaaten angekommen ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Business New Europe.
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