Opposition neuer Art

Sergej Mironow, der ehemalige Vorsitzende des Föderationsrates, bei Anti-Seliger. Foto: Ilya Varlamov

Sergej Mironow, der ehemalige Vorsitzende des Föderationsrates, bei Anti-Seliger. Foto: Ilya Varlamov

Der Widerstand der Anwohner gegen eine geplante Autobahn durch den Chimki-Wald bei Moskau wurde rasch zum Politikum. Nun fand dort ein Workshop statt, der über 3.000 Aktivisten anzog – darunter Menschen wie Jewgenija Tschirikowa und Alexej Nawalnyj.

„Ich glaubte nicht daran, etwas verändern zu können, deshalb erschien mir die Politik als sinnloses Unterfangen“, erzählt Jewgenija Tschirikowa, Einwohnerin der Stadt Chimki bei Moskau. Heute ist sie eine der bekanntesten Aktivistinnen Russlands. Zu ihrem Sinneswandel kam es, als die Moskauer Regierung beschlossen hatte, eine Autobahntrasse durch den Wald in der Nähe ihres Hauses zu bauen. „ Plötzlich wurde mir bewusst, dass meine Steuern für die Zerstörung meiner eigenen Umgebung benutzt werden“, so die 34-jährige Unternehmerin.

Tschirikowa suchte sich Gleichgesinnte unter den Bewohnern ihres Ortes und forderte eine Umlegung der Autobahn. Die Bürokraten reagierten auf ihre Initiative mit Befremdung, und auch viele Anwohner waren skeptisch: In Russland hatte sich ein internationales Projekt mit einem Umfang von mehreren Milliarden Dollar noch nie durch einen Wald aufhalten lassen. „Die Stadtverwaltung von Chimki verstand überhaupt nicht, was wir wollten. ‚Wenn ihr im Wald leben wollt, dann geht doch nach Sibirien!’, bekamen wir damals zu hören.“

„Wenn wir Angst haben, haben wir schon verloren“

Jewgenija Tschirikowa ahnte nicht, auf was sie sich einließ. „Ich war am Anfang schrecklich naiv, und ich glaubte an den Mythos vom Rechtsstaat.“ Während des Konflikts um den Chimki-Wald wurden zehn Aktivisten von unbekannten Angreifern brutal verprügelt. Auch Frau Tschirikowa erhielt anonyme Drohungen, durch die sie sich aber nicht einschüchtern ließ. „Jedes Mal, wenn wieder jemand überfallen worden war, dachte ich mir: Noch ein einziges Mal und ich gebe auf. Doch man kann im Leben nicht ständig davonlaufen. Wenn wir Angst haben, haben wir schon verloren“, meint die Aktivistin. Einige dachten, diese junge Mutter muss verrückt sein; andere hielten sie für eine ehrgeizige Politikerin, die sich damit einen Namen machen wollte; und wiederum andere vermuteten wirtschaftliche Interessen hinter ihren Aktionen. „Die Bürokraten haben mich zu einer Oppositionsführerin gemacht“, sagt sie heute.

Im Jahr 2009 kandidierte Tschirikowa mit Unterstützung der Opposition für das Bürgermeisteramt in Chimki. Ihr Wahlprogramm bestand aus einem einzigen Thema: der Umleitung der Autobahntrasse. Sie wurde Dritte. Nach Ansicht von Alexej Muchin, Leiter des Zentrums für politische Information in Moskau, zeigt das breite Spektrum von Ansichten unter Tschirikowas Anhängern, dass in der russischen Gesellschaft ein Bedarf an der Lösung bestimmter Probleme besteht. „Deshalb verlieren viele oppositionelle Bewegungen an Popularität, wenn sie sich scheuen, von Slogans zu konkretem Handeln überzugehen“, erläutert Muchin die Situation.

Konkretes Handeln

Um konkretes Handeln ging es auch beim viertägigen Workshop im Wald von Chimki, der über 3.000 Aktivisten aus verschiedenen politischen Richtungen anzog und unter der Bezeichnung Anti-Seliger bekannt wurde - eine Anspielung auf das alljährliche Treffen der Pro-Kreml-Jugendgruppe Naschi am Seliger See im Bezirk Twer. Unter den Teilnehmern war auch Jewgenija Tschirikowa, die mittlerweile jedoch nicht mehr die russischen Bürokraten mit ihren „verstaubten Ansichten zu ökologischen Fragen“ für die Zerstörung des Waldes verantwortlich macht, sondern die französische Baufirma Vinci, den ausländischen Partner in diesem Projekt.

Vinci bestand darauf, die Autobahn durch den Wald zu führen und forderte darüber hinaus enorme Vertragsstrafen, falls die bereits bewilligten Abkommen nicht eingehalten würden. Angaben der Wirtschaftszeitung Wedomosti zufolge hätte sich die Geldstrafe bei Vertragsbruch auf ca. vier Milliarden Rubel (98 Millionen Euro) belaufen. Letztlich endete der Kampf um den Wald von Chimki mit dem Beschluss, die Trasse zu verschmälern – von 600 Metern auf 100 Meter. Der Bau kommerzieller Gebäude auf beiden Seiten der Autobahn wurde verboten.

 

 “Eine Art neue Opposition“

Alexej Nawalnyj, Rechtsanwalt, Aktivist und einer der Top-Blogger Russlands, der sich im Kampf gegen Korruption in staatlichen Unternehmen einen Namen gemacht hat, nahm ebenfalls am Workshop in Chimki teil und zählt inzwischen zu den aktiven Unterstützern der Chimki-Bewegung. Wie auch Tschirikowa wurde Nawalnyj vor allem wegen seines konkreten Handelns bekannt - als Verteidiger der Rechte von Minderheitsaktionären in großen russischen Staatsunternehmen.

Tschirikowa und Nawalnyj sind gleich alt, parteilos und bevorzugen die Arbeit als unabhängige Aktivisten, die Unterstützung aus dem gesamten politischen Spektrum erhalten. „Sie sind eine Art neue Opposition in Russland, die real vorhandene Probleme zu lösen versucht“, beschreibt Nikolaj Petrow vom Moskauer Carnegie Center die Situation. Das aktuelle Projekt von Nawalnyj zielt darauf ab, die Unterstützung für die Regierungspartei Einiges Russland bei den Parlamentswahlen im Dezember zu reduzieren. Dafür hat er eine Kampagne gestartet, die die Bevölkerung dazu aufruft, irgendwem ihre Stimme zu geben – nur nicht der Partei Einiges Russland, die er für ein Sammelbecken der korruptesten Politiker Russlands hält. Laut Petrow hat Nawalnyj durchaus Chancen auf eine breite Unterstützung im Volk, da er „eine viel versprechende und wohlüberlegte Position“ vertritt.

Anti-Seliger als Plattform

Das Anti-Seliger-Treffen in Chimki bot Aktivisten wie Tschirikowa und Nawalnyj die Gelegenheit, ihre Erfahrungen weiterzugeben und persönlich mit Gleichgesinnten ins Gespräch zu kommen. Nach Ansicht des Oppositionspolitikers Boris Nemzow, der ebenfalls daran teilnahm, war der Workshop ein voller Erfolg, da er Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammenbrachte. Tschirikowas Angaben zufolge bestand das Ziel von Anti-Seliger darin, einen Dialog zwischen verschiedenen politischen und staatsbürgerlichen Kräften einzuleiten und „den russischen Bürgern Mittel und Wege aufzuzeigen, wie sie ihre Ehre, ihre Würde und ihre Rechte in diesem Land verteidigen können“. Die Organisatoren möchten den Workshop zu einem jährlich wiederkehrenden Event werden zu lassen.

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