Joschka Fischer. Foto: DPA
Was wird der Weg Russlands unter den völlig veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts sein? Ist es stark genug, diesen Weg allein zu gehen? Will oder braucht es Partner? Es ist eine wichtige Entscheidung, weil Russland spätestens seit Peter dem Großen immer europäischer Faktor war und von den Entwicklungen in Europa zutiefst berührt wurde. Ob dies mehr Distanz zu Europa oder Kooperation bedeutet, diese Entscheidung muss auf beiden Seiten getroffen werden, aber vor allem in Russland.
Eine engere, vertiefte Kooperation wäre in gegenseitigem Interesse. Die Verbindungen sind intensiv und offen, haben aber bei Weitem nicht das Niveau erreicht, das erreicht werden könnte.
Dies setzt allerdings voraus, dass die Kooperation auf gemeinsamen Werten und Interessen basiert, und nicht auf dem Konzept von Einflusszonen. Interessen muss man offen benennen und Werte ebenso, diese Erfahrung haben wir in der EU gemacht. Und im nächsten Schritt muss man versuchen, in Verhandlungen Ausgleiche und Kompromisse zu finden.
Die Widersprüche liegen in der gegenseitigen Nachbarschaft. Die souveränen Staaten zwischen Russland und der EU, die Frage nach der Zukunft der sogenannten postsowjetischen Ordnung, auch die nach der Zukunft der Ukraine, sind ein Thema, das auf beiden Seiten intensiv diskutiert wird. Die Zukunft der „eingefrorenen Konflikte“ – hier haben wir erlebt, wie schnell ein eingefrorener Konflikt zu einem heißen werden kann.Gleichzeitig sehe ich ein großes wirtschaftliches, gesellschaftliches und politisches Potenzial, wenn wir uns ehrlich begegnen und offen mit den vorhandenen Interessenskonflikten umgehen.
Die Verzahnung der Ökonomien kann einen wichtigen Beitrag leisten. Aber immer öfter höre ich, dass es Schwierigkeiten bei russischen Direktinvestitionen in Europa gibt. Eines der Beispiele ist die gescheiterte Übernahme von Opel durch Magna. Das Hauptproblem liegt in den normativen Werteunterschieden und an dem Misstrauen, das in Europa herrscht und sich in einer schweigenden Zurückweisung solcher Investitionen ausdrückt.
Die EU gründet nicht nur auf Interessen, sondern auch auf gemeinsamen Werten, die fundamental für unser Selbstverständnis sind. Jeder Fortschritt bei Rechtsstaatlichkeit, bei der Unabhängigkeit der Justiz, der Gewaltenteilung, den Menschenrechten hat positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit, weil er Misstrauen abbaut.
Gleichzeitig sehe ich, dass in der Visafrage die Fortschritte, die möglich wären, nicht gemacht werden. Ich finde die Haltung der Europäer, vor allem der Deutschen und einiger anderer, extrem kurzsichtig. Alle Erfahrungen zeigen, wie wichtig der Austausch, nicht nur von Gütern und Ideen, sondern von Menschen ist.
Es gibt eine große Gruppe, die in einem ersten Schritt Erleichterungen verdient hat, und zwar gegenseitig. Der zweite Schritt wäre Visafreiheit. Das wird nicht einfach unter Gesichtspunkten wie Grenzen und Einreisekontrollen. Aber vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den Grenzöffnungen in Europa halte ich das für machbar. Gerade in Zeiten, in denen in der EU eine kleine fremdenfeindliche Partei eine große Regierungspartei dazu bringen kann, Grenzkontrollen wiedereinzuführen, nur weil das aus wahlpolitischen Gründen Erfolg verspricht, ist der Einsatz für die Überwindung von Barrieren von entscheidender Bedeutung.
Joschka Fischer ist ehemaliger Politiker, journalistischer Kommentator und Unternehmensberater.
Der Beitrag basiert auf einem Vortrag Joschka Fischers, gehalten am 30. Mai im Deutschen Historischen Institut Moskau.
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