Mitarbeiter des russischen Katastrophenschutzministeriums am Ufer des Kuibyschew Stausee. Foto: RIA Novosti
Im Innenhof des Amts für Gerichtsmedizin in Kasan herrscht heilloses Durcheinander: Die Verwandten der Bulgaria-Opfer identifizieren ihre Angehörigen, erhalten Todesbescheinigungen und erhalten kurz darauf das Bestattungszubehör: die Russisch-Orthodoxen einen Sarg und ein Kreuz, die Moslems Bretter und Gaze für das Leichentuch. Leichenwagen bringen die Toten nach Hause, wo unmittelbar danach die Trauerprozessionen zum Friedhof beginnen.
Eine junge hübsche Frau in einem kurzen fliederfarbenen Mantel betritt den Hof. Sie läuft aufrecht, den Rücken kerzengerade, die Beine stramm, weil sich die Kniegelenke nicht länger bewegen. Zwei Männer stützen sie von der Seite. Die Frau blickt vor sich hin in die Leere. Sie lehnt sich an die Wand, ihren Händen entgleitet eine goldene Kette mit einem kleinen Kreuz. Sie heult los - , leise, aber dafür umso herzzerreißender. Die Männer an ihrer Seite halten kleine Kleiderbügel mit zwei identischen Kinderanzügen. Weiße Hemdchen, winzige Westen. Sie packen die Anzüge in zwei schwarze Plastiktüten. Nikita Sabirow heißt es auf dem einen, Daniil Sabirow steht auf dem anderen. Sie waren Zwillinge, Jahrgang 2006. Sie stehen auf der Liste der toten Passagiere.
Ein Psychologe des Katastrophenschutzes sitzt auf einer Bank neben einem weinenden Mann und hält seine Hand. Der Mann ist der Nachbar von Olessja Wedernikowa, die in der Küche der Bulgaria arbeitete. Ihre Verwandten baten den Mann um Hilfe, ihren Leichnam nach Hause zu bringen. Es war Olessjas erste Schiffsfahrt. Davor hatte sie in einer Spielzeugfabrik gearbeitet, die aber hielt den Lohn zurück, also suchte sie einen Nebenjob für den Sommer. Gemeinsam mit ihrer Freundin Ruwina heuerte sie als Küchenaushilfe auf dem Ausflugsdampfer an. Als das Schiff scharf nach rechts kippte, fiel ein Topf mit kochendem Wasser auf Olessja, sie verbrühte sich. Ruwina konnte sich im letzten Augenblick retten, Olessja schaffte es nicht.
Bergung der Leichen
Am Unglücksort sind Taucher aus ganz Russland im Einsatz. Sie bergen die Leichen, am Ufer der Wolga haben sie ihr Lager aufgeschlagen. Wie lange sie unter Wasser bleiben, wissen nicht einmal sie selbst. Es heißt, unter Wasser bleibt die Zeit stehen. Uhren tragen die Taucher nicht, sie orientieren sich an ihren Sauerstoffvorräten. Konstantin hat während seiner Schicht acht Leichen aus der Tiefe geborgen. „Wie es da unten aussieht? Wie in einer Geisterstadt: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der unter Wasser in angespannter Haltung schläft oder einfach im Raum schwebt.“ Die Passagiere der Bulgaria hatten keinerlei Chancen: „Sie konnten maximal 10 Minuten überleben. Auf der Bulgaria gab es nicht einen einzigen hermetisch verschließbaren Raum. Es war schließlich kein U-Boot.“
Der Bootsmann blieb auf Oberdeck
In einem nahe gelegenen Dorf findet eine Trauerfeier statt. Beigesetzt wird der Bulgaria-Bootsmann Sergej Ljebjedjew. Seine ganze Familie arbeitete mit auf dem Schiff: Seine Frau Aljona als Köchin, seine Tochter Dascha als Aushilfskraft, sein Sohn Sascha als Matrose im Praktikum. Alle konnten sich retten, bis auf den Vater. Jetzt wirken sie eher erschöpft als von Kummer zerfressen. Eine einfache Familie, ein altes Holzhäuschen. Die Todesfeier findet im kleinen Dorfcafe nebenan statt. Eine typische Bestattung auf dem Land. Die alten Großmütterchen teilen die Gerüchte mit der trauernden Menge: „Der Kapitän blieb bis zum Schluss auf dem Schiff. Er schloss in seiner Kajüte ein und gab sich seinem Schicksal hin.“
Über den Tod des Kapitäns selbst weiß man so gut wie nichts. Bis zuletzt versuchte er die starke Schräglage, die die Bulgaria zum kentern brachte, nach Steuerbord auszugleichen und die Passagiere retten. “Alle nach Backbord!”, hatte er lauthals gebrüllt. Der Bordfunker konnte diese Anweisung nicht mehr über Lautsprecher durchgeben, weil die Funkkabine nicht länger unter Strom stand. Von den 35 Mitgliedern der Besatzung konnten 23 gerettet werden, von den 173 Passagieren überlebten lediglich 56.
Nikolaj Dmitrijew arbeitete in der Diskothek der Bulgaria und war mit seinen beiden Söhnen an Bord. Der ältere half seinem Vater bei der Arbeit, er sang und tanzte. Den jüngeren nahmen sie "einfach so" als blinden Passagier mit. Nikolaj hielt gerade mit seinen Söhnen einen Mittagsschlaf in seiner Kabine auf dem Unterdeck, als die Frauen in der Kajüte ohrenbetäubend losschrien. Die verschlafenen Dmitrijews stürmten vor die Tür, als das Schiff schon fatal nach Steuerbord gekippt war. Auf der Treppe hoch zum Oberdeck drängten sich verzweifelt die Menschen, die Dmitrijews waren die letzten, die es in letzter Sekunde schafften.
Auf dem Oberdeck stürzte sich eine Welle auf sie nieder, „wie eine Wasserwand, hoch bis zur Decke“. Nikolaj Dmitriew schmiss es auf dem Boden. Als er seine Augen aufschlug, sah er über sich eine Luke und nur eine Sekunde später den Arm eines Matrosen, der ihm durch half. „Das war Iwan, ein guter Junge. Er kamm immer aufs Deck und hörte sich die musikalische Begrüßung der Passagiere an. Er sang sehr gerne“, erinnert sich Dmitrijew. „Hätte er mich da nicht herausgezogen, dann wäre ich unten geblieben. Leider konnte er selbst nicht schwimmen.“
Iwan, der nicht schwimmen konnte
Am Flusshafen von Kasan steht die „Meteor“ - ein Tragflügelboot. Es sind kaum Passagiere an Bord, als es ablegt. Die Mitarbeiter des Reisebüros im Hafen klagen: „Noch vor einer Woche standen die Menschen hier Schlange, jetzt geben viele ihre Tickets zurück. Sie haben Angst.“
Der Untergang der „Bulgaria“ ist eine sehr russische Tragödie. Am helllichten Tage geht mitten auf der Wolga innerhalb von drei Minuten ein überfülltes Schiff unter, das von einem nicht registrierten Reiseveranstalter gepachtet wurde, mit halber Besatzung, die schon lange keinen Lohn mehr gesehen hat und dafür ihre Verwandten mitbrachten. Und Iwan - , einem Matrosen, der zwar das Singen liebte, aber nie schwimmen gelernt hat.
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst bei Russkij Reportjor.
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