Fjodor Lukjanow
Die Teilnehmer der Debatte
bedauerten damals, dass Moskau in der Außenpolitik unzuverlässig sei.
Einigen Vorwürfen musste ich zustimmen. Russlands Verhalten ist häufig
tatsächlich durch widersprüchliche Interessen im Innern bedingt, die
kaum etwas mit den staatlichen Interessen zu tun haben. Außerdem
unterscheiden Russen immer nach Ost und West und wissen nicht so recht,
welchen Kurs sie auf lange Sicht gehen sollten.
Gleichzeitig
wies ich jedoch darauf hin, dass viele Staaten sich zuletzt ähnlich
verhalten haben und langfristige Strategien heutzutage kaum möglich
sind. Die Welt befindet sich in einem ständigen Wandel. Selbst die
Großmächte wissen nicht, was in mittel- oder langfristiger Perspektive
geschieht.
Mit dieser Bemerkung löste ich Empörung bei den
anderen Diskutanten aus. Einer belehrte mich, dass in der Europäischen
Union alles im Voraus geplant und ihre Entwicklung für viele Jahre
vorbestimmt sei. Mit meinen Zweifeln stand ich ziemlich alleine da.
Wie
gesagt, das war vor ungefähr zwei Jahren. Wenn ich aber jetzt sehe, was
in Europa und Amerika vorgeht, erinnere ich mich wieder an diese
Aussage des deutschen Kollegen. Ich weiß nicht, ob er damals naiv oder
hochmütig war, aber das Leben ist nun einmal so, dass man für beides
büßen muss.
Erst vor einem bzw. eineinhalb Jahren, als sich die
Welt von der Krise 2008-2009 allmählich erholte und alle daraus gelernt
zu haben schienen, konnte kaum jemand vorhersehen, dass Europa die
größte Gefahr für das Finanz- bzw. Wirtschaftssystem darstellen würde.
Jetzt versinkt aber Europa in seinen inneren Problemen. Der Euro, als in
den späten 1990er Jahren gestartetes Projekt zur Erschaffung der
zweiten Reservewährung der Welt, bereitet nicht nur den Europäern,
sondern der ganzen Welt große Kopfschmerzen. Am Beispiel der USA ist zu
erkennen, worin die Gefahr einer Vorherrschaft einer Großmacht steckt –
die Widersprüche zwischen den politischen Parteien und die Polarisierung
der Gesellschaft in einem Land können die Weltwirtschaft in eine tiefe
Krise stürzen.
In beiden Fällen sind aber die Probleme vor allem
politisch bedingt. Die Unfähigkeit, die Europäische Union
wirtschaftlich und politisch zu harmonisieren, (es ist nun einmal
unmöglich, eine Einheitswährung in 17 Ländern mit unterschiedlichen
Wirtschaftsniveaus) kann zu einem Domino-Effekt für die Weltwirtschaft
führen.
Die USA sind auf konzeptuelle Widersprüche gestoßen. Als
man in Washington allmählich einsah, dass der Traum als Supermacht
Nummer eins wohl platzen würde, wurde damit begonnen, sich Gedanken über
die eigene Rolle und die Beziehungen zum Rest der Welt zu machen. Da in
Zeiten der Globalisierung solche Prozesse immer unter die Lupe genommen
werden, nahm die Polemik an Schärfe zu, wovon die jüngsten Debatten im
US-Kongress über das Schuldenlimit zeugen. Wenn sich die Amerikaner über
ihr eigenes Schicksal streiten, interessieren sie sich kaum für den
Rest der Welt, selbst wenn sie die „großen Brüder“ im Interesse der
globalen Stabilität zum Einvernehmen auffordern.
Die heutige
Welt ist sehr kompliziert und chaotisch. Es ist natürlich falsch, zu
behaupten, die traditionellen Prinzipien der zwischenstaatlichen
Beziehungen, die seit den Zeiten Thukydides und Macchiavellis bekannt
sind, hätten ihre Bedeutung verloren - sie bleiben im Grunde konstant.
Aber diese unerschütterlichen Prinzipien werden heutzutage von zu vielen
neuen Faktoren beeinflusst, die die gewohnten Mechanismen anders
funktionieren lassen. So spielen die Aktionen einzelner Politiker bzw.
Länder eine viel wichtigere Rolle für die gesamte Welt als jemals zuvor.
Da sich jedermann letztendlich nach der nicht immer zutreffenden
eigenen Wahrnehmung der Realität richtet, steigt das Risiko von
Erschütterungen und die Verantwortung dafür.
Die Dominanz des
Westens in der Weltpolitik und -wirtschaft rief zwar viele Fragen
hervor, doch bislang ist kein Gegengewicht entstanden. Russland ist für
die Rolle des Herausforderers nicht stark genug; die islamische Welt
wird sich noch lange mit den eigenen Problemen auseinandersetzen müssen;
die so genannten „Schwellenländer“ (Brasilien oder Indien) sind an
einer Änderung der einstigen Prinzipien nicht interessiert oder (China)
halten sie für verfrüht und wollen zunächst Kräfte sammeln.
Egal
wie, aber die ganze Welt tendiert derzeit dazu, die aktuelle
Weltordnung aufrechtzuerhalten, um noch größere Probleme zu verhindern.
Peking kritisiert zwar das Vorgehen des Federal Reserve Systems zur
Abwertung des US-Dollars, muss aber diese Spielregeln akzeptieren.
Es
entsteht aber eine paradoxe Situation: Das größte Hindernis auf dem Weg
zur Erhaltung des Status Quo bzw. zu einer vorsichtigen
Krisenüberwindung sind die Politiker in Amerika und Westeuropa - also
diejenigen, von denen eigentlich alles abhängt. Der Zeitpunkt für
Auseinandersetzungen (wie zurzeit in Amerika und Europa) ist absolut
ungünstig. Im Allgemeinen kann diese Situation den Ruf sowohl der USA
als auch der Europäer schwer beschädigen. Denn die
Verantwortungslosigkeit des westlichen Establishments und die Diskrepanz
zwischen seinen Aktivitäten und den erklärten Zielen liegen erkennbar
auf der Hand.
Die Politik der Großmächte hat schon häufiger
Katastrophen in der Welt ausgelöst. Das 20. Jahrhundert hat dafür viele
Beispiele parat. Die Illusion, daraus Lehren gezogen zu haben, schwindet
von Jahr zu Jahr.
Fjodor Lukjanow ist der Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs"
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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