Das Jugendlager am Seligersee hat Tradition. Foto: Pauline Tillmann
Die Sonne blitzt durch die Baumwipfel. Es ist kurz nach acht Uhr morgens. Auf dem Vorplatz versammeln sich die ersten Jugendlichen. Sie schwenken Fahnen fangen an zu singen. Aus den Boxen dröhnt die „Naschi-Hymne“ mit dem Refrain „Naschi ist eine Bewegung vorwärts, nie rückwärts, hinter uns steht das Volk“. „Naschi“ ist eine kremltreue Jugendorganisation, die 2005 gegründet wurde. Die Mission: den Kurs der Partei „Einiges Russland“ zu unterstützen – und damit Premier Wladimir Putin und Präsident Dmitrij Medwedjew. Auf dem Lager am Seligersee sollen die Jugendlichen auf diese Linie eingeschworen werden. Nicht wenige sprechen von Gehirnwäsche, schließlich prangen überall Konterfeis der beiden Gallionsfiguren.
Mit 20.000 Teilnehmern in fünf Wochen ist das Lager in Russland das größte seiner Art. Die Jugendlichen sind zwischen 17 und 25 Jahre und müssen sich für eine Teilnahme bewerben, entweder per Video oder mit einem Essay. Ausgewählt werden nur die Besten. Es bewerben sich fünf Mal mehr als teilnehmen können. So versteht sich das Camp selber als „staatlich gefördertes Forum für junge, talentierte Leute“. Und diese Förderung kostet die Staatskasse in diesem Jahr rund vier Millionen Euro. Weitere 2,5 Millionen Euro kommen von privaten Sponsoren wie Sberbank oder BMW.
Mischung aus traditioneller Lagerfeuerromantik und moderner Technik
Unter den Jugendlichen sind viele Putin-Anhänger. Wie Ruslan Katasonow: Der 21-jährige Assistent eines Duma-Abgeordneten aus Belgorod findet: „Wenn es im Wald Wi-Fi gibt, ist das schon was Besonderes.“ Tatsächlich stehen überall Laptops, mit denen man umsonst ins Internet kann.
Ruslan hat inzwischen im größten Zelt auf dem Gelände Platz genommen, mit Blick auf See, Strand und Wald. Überall sind Jugendliche, die eine schwarzen Styropor-Platte am Bauch befestigt tragen. Auf diese Platten setzen sie sich, wenn wieder mal eine Vorlesung unter freiem Himmel stattfindet. Auf dem Programm stehen Lektionen zu „Ideologie“, „Organisation von Massenaktionen“, „Rhetorik“ und „Selbstverteidigung“. Das Kernthema in der letzten Juliwoche lautet: Politik. Lektoren sind prominente Duma-Abgeordnete, Gouverneure und Bürgermeister. Der Höhepunkt: ein Besuch von Ministerpräsident Wladimir Putin am 1. August.
„Naschi“-Gründer Jakemenko hält eine flammende Rede. Foto: Pauline Tillmann
„Putin hat dafür gesorgt, dass die Russen wieder stolz auf ihr Land sein können”, sagt Katasonow. Er fühlt sich als Teil der politischen Elite, schließlich ist er schon seit einiger Zeit Assistent eines Duma-Abgeordneten in Belgorod. Um selber mal ins russische Parlament zu kommen, arbeitet er Tag und Nacht.
Das Jugendcamp am Seligersee ist dabei nur förderlich. Hier kommt man mit wichtigen Leuten in Kontakt, kann Visitenkarten austauschen und Praktika anleiern. Der Jungpolitiker ist überzeugt: „Das Wichtigste für uns Russen ist Stabilität – und Putin bedeutet Stabilität.“ Deshalb glaubt er, dass Putin wieder Präsident wird, bei den nächsten Wahlen im März 2012.
Spiel, Spaß, Erholung – und Disziplin
Um auch die anderen Jugendlichen auf diesen Trichter zu bringen, gibt es eine flammende Rede von Wassili Jakemenko, der die „Naschi“ 2005 eher als Antwort auf die Orangene Revolution in der Ukraine gründete. Wenn er über die Mission spricht, kommt hinter jedem Satz ein Ausrufezeichen. Die Mission ist es, das Land zu stärken und eine Bewusstseinsänderung herbeizuführen nach dem Motto „Ihr habt die Zukunft des Landes selber in der Hand“. Denn das Denken vieler Russen ist immer noch sowjetisch geprägt. Deshalb sei es Zeit selbst die Verantwortung zu übernehmen, so das allumfassende Credo des Jugendlagers. Die „Naschis“ nennen das Patriotismus und lassen überall auf ihrem Camp Fahnen in den Nationalfarben weiß, blau, rot wehen.
Die meisten Jugendlichen besuchen das Lager, um sich zu erholen und um Spaß zu haben, schließlich sind die Freizeitmöglichkeiten schier unendlich. Von Schwimmen über Krafttraining bis hin zu Klettern und Mountainbike fahren, alles ist möglich. Allerdings ist dieser Spaß genau rationiert, denn die Vorlesungen stehen im Mittelpunkt. Verpasst man eine davon, bekommt man einen Vermerk. Verpasst man drei, fliegt man aus dem Lager. In abgelegener Natur soll sich die Elite von morgen darauf besinnen Neues zu lernen und vor allem Kontakte zu knüpfen. Die Pressesprecherin des Camps, Anja Berukowa, sagt: „Die meisten Teilnehmer kommen aus der Provinz, hier haben sie die Möglichkeit Leute aus ganz Russland kennen zu lernen und über soziale Netzwerke weiter in Kontakt zu bleiben.“
Mitgefühl mit Angehörigen nach dem Anschlag in Norwegen
„Die Tragödie in Norwegen ist hier ganz präsent“, sagt Mitorganisator Nikita Tomilin. Der 21-Jährige hat in Moskau eine kleine Werbeagentur und ist zum zweiten Mal am Seligersee. „Wir schauen jeden Tag Nachrichten, den Angehörigen gehört unser Mitgefühl“, sagt er und nimmt die schwarze Brille ab. Unmittelbar nach dem Anschlag wurde das gesamte Gebiet durchkämmt. Und das Sicherheitsaufgebot verstärkt. Waren es im letzten Jahr 65 Sicherheitsleute, die das Gelände bewacht haben, sind es in diesem Jahr doppelt so viele. Das macht Pressesprecherin Anja Berukowa sicher: „Ich glaube, so etwas wie in Norwegen kann hier in Russland nicht passieren.“ Schließlich gebe es eine strenge Gepäckkontrolle, eine noch strengere Gesichtskontrolle und viel mehr Sicherheitsleute als auf der Insel Utoya.
Für Vlad Miloslawski sind die Vorfälle in Norwegen ganz weit weg. „Klar habe ich davon gehört“, sagt der 20-jährige Medizinstudent, „aber es hat mich nicht davon abgehalten hierher zu kommen“. Vlad ist mit 60 Freunden und Bekannten an den Seligersee angereist. Sie nennen sich „Drugije“ – „die Anderen“. Damit wollen sie klar machen, dass sie mit der Linie der kremltreuen „Naschi“ nichts anfangen können. Vlad ist einer der Wenigen hier im Camp, der Putin nicht toll findet. Er meint, dass er viele Wahlversprechen während seiner Amtszeit als Präsident nicht umgesetzt hätte – zum Beispiel die Löhne der Ärzte anzuheben. „Zwar wurden die Löhne um 35 Euro angehoben, aber wenn man eine Familie zu ernähren hat, ist das ein Witz.“ Wegen der niedrigen Löhne träumt Vlad von einer Arztkarriere in Europa. Fragt man ihn nach den Konterfeis von Putin und Medwedjew verdreht er die Augen: „Natürlich findet hier Gehirnwäsche statt. Bei jeder Gelegenheit wird dir eingebläut, Putin weiß wo es langgeht und die Opposition hat keinen Plan.“ Vlad sieht das Lager nicht als Karrieresprungbrett sondern als Möglichkeit sich zu erholen.
Nicht Wenige sehen es auch als Heiratsmarkt. In diesem Jahr haben sich 32 Paare am Seligersee trauen lassen. Das hat Tradition, von Beginn an. Familie ist ein wichtiger Wert in Russland. Und damit auch im Jugendcamp. Hier will man den Spagat schaffen zwischen Werten und Fortschritt, zwischen Erinnerung und Zukunft und zwischen Tradition und Moderne. Wichtiger Teil dieser Zukunft ist Putin – die meisten sehen in ihm den künftigen Präsidenten Russlands.
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