Gaidar, wie haben Sie das gemacht?


„Das war so ein Gefühl, dass man Berge versetzen könnte“

Andrej Illarionow, Ökonom

"Ich könnte mir vorstellen, dass wir ein richtig blühendes Russland hätten."

Andrej Netschajew, Präsident der Bank „Russische Finanzkorporation“


}

Der Ökonom Andrej Illarionow (50), war von April 2000 bis Dezember 2005 Wirtschaftsberater von Präsident Wladimir Putin. Er forscht und lehrt heute am Cato-Institut in Washington, einer der einflussreichsten politökonomischen Denkfabriken der USA.

Nach einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium an der Leningrader Staatlichen Universität promovierte er am Lehrstuhl für modernen Kapitalismus und wurde Berater des russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin, später Direktor des Instituts für Wirtschaftsanalyse und arbeitete in der Regierungskommission für Wirtschaftsreformen. Lange Zeit galt er in Russland als ultraradikaler Wirtschaftsfachmann.

 

Aus heutiger Sicht macht er die Ursachen der aktuellen Wirtschaftsprobleme Russlands überwiegend in Fehlern der Jahre 1991 bis 1992 aus.

 

Frage: Hatten Sie im August 1991 ein Gefühl des Aufbruchs?

Die Monate nach dem August-Putsch bis zum Januar 1992 waren eine phantastische Zeit. Niemals, weder vorher noch hinterher, hat es Vergleichbares gegeben. Allenthalben spürte man diesen überwältigenden emotionalen Auftrieb. Nicht nur ich habe so empfunden, sondern Millionen von Menschen. Doch bereits im Januar 1992 wuchs meine Skepsis. Und im Juli, nach einer meiner häufigen Unterredungen mit Jegor Gaidar, der seinerzeit die Funktion des kommissarischen Ministerpräsidenten Russlands wahrnahm, wurde mir klar, dass er die Probleme, die ich sah, nicht teilte. Entweder sah er nicht oder wollte nicht sehen,  wohin der Zug rast – nämlich in eine Katastrophe.

Frage: Worauf gründete sich Ihr Vorgefühl eines Desasters? Und warum ausgerechnet  bereits 1992?

Den ersten Schock bekam ich, als keinerlei Maßnahmen zur Liberalisierung der Wirtschaft ergriffen wurden. Erst Ende Januar unterzeichnete Boris Jelzin den Präsidialerlass über die Handelsfreiheit. Zum zweiten Mal schrillten meine Alarmglocken, als Jegor Gaidar die Vereinbarung mit den Bergarbeitern der Kohlereviere absegnete und ihnen eine beträchtliche Lohnerhöhung zusicherte. Für die damalige Zeit waren das gewaltige Summen, die nicht durch eine entsprechende Produktivität gedeckt waren. Mich irritierte die Leichtigkeit, wenn nicht Leichtfertigkeit, mit der die politisch Verantwortlichen kolossale staatliche Mittel verteilten. Ab Mai 1992 nahm das Geld-aus-dem-Fenster-Schütten der Regierung orgiastische Formen an. Das musste unausweichlich dazu führen, dass eine Inflationswelle einsetzte, die die Wirtschaft zerrüttete, die soziale Sphäre unterminierte und eine politische Destabilisierung nach sich zog.

Frage: Hätten Sie damals eine stringente, ganzheitliche Strategie für die Reformierung des Landes aus Ihrer Tasche ziehen können?

Zwar hatten wir uns auf die grundlegenden Ideen, Prinzipien und Richtungen verständigt. Sie zeugten von der Einsicht, dass die Reformen in drei Richtungen verlaufen sollten, nämlich in den Bereichen Politik, Volkswirtschaft und Nationalstaatlichkeit. Dennoch hat es einen formal abgefassten Text nicht gegeben, der alle maßgeblichen Überlegungen in einem einzigen Dokument vereint hätte.

Die Richtung der ökonomischen Reformen war vergleichsweise detailliert ausgearbeitet. Ihre drei Hauptkomponenten bestanden in der Liberalisierung der Wirtschaft, ihrer finanziellen Stabilisierung sowie in Strukturreformen, deren Kernstück wiederum die Privatisierung bildete.

Auch hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Reformen gab es eigentlich keinerlei Unklarheiten. Am Anfang musste die Liberalisierung der Wirtschaftstätigkeit stehen, die ohne Probleme mit einem Federstrich zu bewerkstelligen gewesen wäre. Eine Aufhebung der Verordnungen, Beschränkungen und Verbote hätte genügt, damit sich jeder ungehindert hätte betätigen können. Die finanzielle Stabilisierung zielte auf die Eindämmung der Inflation und erforderte deshalb mehr Zeit. Und die Strukturreformen waren auf Jahre angelegt. Doch eine Privatisierung ohne abgeschlossene ökonomische Liberalisierung und finanzielle Stabilisierung in Angriff zu nehmen, war unverkennbar ein Abenteuer.

 

Frage: Sie waren doch Teil des Präsidialapparats. Warum haben Sie und andere namhafte Ökonomen Ihre Meinung nicht mit Regierungschef Jegor Gaidar erörtert?

Wie kommen Sie darauf? Wir haben das Ganze sehr wohl erörtert. Nur leider ohne befriedigendes Ergebnis. Wir alle haben versucht, Gaidar zu überzeugen, sofort zu außerordentlichen Maßnahmen zu greifen, um die heranrollende Inflation wenigstens zu dämpfen. Aber er entgegnete stets: „Macht Euch keine Sorgen. Alles geht in Ordnung. Die Inflation fällt. Nach dem Juli wird die Rate unter 10 Prozent liegen.“ Nachdem sie im August 1992 tatsächlich auf 9 Prozent gesunken war, schnellte die Inflationsrate im Oktober auf stattliche 23 Prozent und im November auf 26 Prozent in die Höhe, im Dezember 1992 lag sie bei 25 Prozent. Dieser enorme Verlust von Kaufkraft hat dann nicht nur die Regierung Gaidar, sondern auch Jegor Gaidar selbst fortgespült.

Frage: Können Sie heute, mit dem Abstand vieler Jahre, Jegor Gaidars Motivation nachempfinden? Warum hat er damals diesen Weg gewählt?

Meiner Meinung nach liegen die Gründe in drei Dingen: Kompetenz, Charakter, Weltanschauung. Da lag einiges im Argen.

Frage: Fühlen Sie sich persönlich getroffen, dass die Reformen nicht erfolgreich verlaufen sind?

Natürlich. Die einmalige historische Chance, die wir 1991 in der Hand hatten, nämlich in Russland eine liberale Wirtschaft, einen demokratischen Staat und eine freie Gesellschaft zu schaffen, wurde stümperhaft vertan. Eine solche Chance kommt so schnell nicht wieder. Falls überhaupt. 

}

Andrej Netschajew, von 1992 bis 1993 unter Jegor Gaidar Wirtschaftsminister Russlands und heute Präsident der Bank „Rossijskaja Finanzowaja Korporazija“ (Russische Finanzkorporation), vertritt die Auffassung, dass die Regierung Gaidar das Land letztlich vor Hunger und Krieg bewahrt hat.

 

Frage von Anton Tschupilko: Ist es richtig, dass sich 1991 in Moskau und Leningrad große Wirtschaftszentren etabliert hatten und dort bereits große Reformprogramme geplant waren?

Andrej Netschajew: Es gab verschiedene Programmalternativen. Insgesamt existierten zu dem Zeitpunkt, als ich die Reformen umzusetzen hatte, bereits mehrere Programme. Das bekannteste - nämlich „500 Tage“ - wurde schließlich mit dem Regierungsprogramm zusammengeführt und dadurch faktisch ausgehöhlt und im Endeffekt verworfen.

 

War das ein Arbeitsprogramm?

Ja, anfangs hatte es durchaus etwas von einem Arbeitsprogramm. Aber der Status quo in der Wirtschaft änderte sich damals von Tag zu Tag. Jegor Gaidars Programm, das letztendlich umgesetzt wurde, musste radikalere Maßnahmen ergreifen. Als 1991 der August-Putsch losbrach, stand außer Zweifel, dass die Wirtschaftsreform nicht länger aufgeschoben werden konnte. Die Jahre 1990 und 1991 hatten das Land beinahe in ein ökonomisches Fiasko gestürzt. Als die Zentralgewalt nach der abenteuerlichen Revolte einiger Militärs und Partei- sowie Regierungsmitglieder faktisch völlig zusammenbrach, setzte neben dem politischen Zerfall der Sowjetunion auch die endgültige Destabilisierung der Wirtschaft ein.

Welchen Zeitraum hatte das Programm im Auge?

Am detailliertesten waren die ersten beiden Wochen, die ersten zwei Monate und das erste halbe Jahr ausgearbeitet. Wir hatten uns tatsächlich vorgenommen, den ganzen Schrott auseinander zu nehmen und höchst unpopuläre, aber absolut notwendige Maßnahmen zu ergreifen. Wir fürchteten, dass das auch das Ende dieser Regierung bedeuten würde. Deshalb wollte damals ja auch keiner Regierungsverantwortung tragen. Allen war klar, dass eine Regierung, welche die - bis dato staatlich kontrollierten - Preise freigibt, kaum beliebt sein würde. Zwar stellt so eine Preisfreigabe eine immense Belastung für die Bevölkerung dar, doch haben auch viele darauf gewartet, dass irgendjemand die Trümmer der Sowjetökonomie beiseite räumt, damit mit dem Aufbau einer Marktwirtschaft begonnen werden konnte.

Womit sollte begonnen werden?

Oberste Priorität besaß die Liberalisierung der Preise und die Stabilisierung des Staatshaushalts. Überhaupt kam es aber erst einmal darauf an, den Winter zu überstehen.

Inwieweit gelang es der Regierung, dieses Programm zu verwirklichen?

Den Winter hatten wir überstanden, und bereits im Mai 1992 war die Lage weitgehend normalisiert. Die Preise begannen wieder zu sinken. Auch der zunächst gigantisch gestiegene Dollar-Kurs fiel wieder. Es gab also Anzeichen für eine Konsolidierung der Wirtschaft. Zu diesem Zeitpunkt äußerten einige Persönlichkeiten den Wunsch, in der Regierung mitzuarbeiten. Leider zeigte Boris Jelzin, dessen Autorität zwar die eingeschlagene Wirtschaftspolitik unterstütze, gelegentlich Führungsschwäche. Das soll heißen, dass es zu mehreren gravierenden Fehlbesetzungen kam, weil die Regierung einfach gezwungen war, sich auf Kompromisse einzulassen und ihre Finanzpolitik anzupassen.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Ja, zum Beispiel die zwischenbetriebliche Verrechnung, das heißt die gegenseitige Annullierung der Schulden staatlicher Betriebe. Wir waren kategorisch dagegen, denn das gab der Inflation kolossalen Auftrieb. Außerdem hielten sich die Unternehmen nicht mehr an die Finanzdisziplin.

Ist Ihnen damals, in den Jahren 1991 und 1992, der Gedanke gekommen, dass es in Russland vielleicht nichts werden könnte mit der Demokratie?

Wir haben uns nicht mit Politik beschäftigt, sondern mit Ökonomie. Das war die Arbeitsteilung. Boris Jelzin hat von Anfang an die Fronten klar gemacht: Ihr seid die Technokraten, eure Aufgabe sind Wirtschaftsreformen. In die Politik und ihre öffentliche Wirksamkeit habt ihr euch nicht einzumischen! Jelzins Amtsverständnis war das eines "Vaters der Nation". Er wollte nicht mit einer bestimmten Partei assoziiert werden. Also haben wir uns so lange nicht in die Politik eingemischt, bis sich irgendwann die Politik uns vorgeknöpft hat. Plötzlich waren wir mitten drin in der Auseinandersetzung der politischen Kräfte im Lande.

Demnach hätte ein anderes Russland entstehen können, wenn sich Gaidars Führungsmannschaft von Anfang an mit allen Aspekten der Politik beschäftigt hätte?

Ich denke, dass wir heute ein völlig anderes Russland hätten, wenn wir noch ein Jahr weitergearbeitet hätten.

Und zwar was für ein Land?

Ich könnte mir vorstellen, dass wir ein richtig blühendes Russland hätten. Wir hätten ein Land mit einer normalen Mittelklasse, in dem die soziale Differenzierung nicht derart aberwitzige Formen angenommen hätte, wie es heute der Fall ist. Ich bin überzeugt, dass dieser Staat sich nicht - wie heute üblich - absolut unbegründet, irrational und ineffektiv in die Wirtschaft einmischen würde. Und wir hätten ein Land, das viel mehr auf eigenen Beinen stehen und weniger von den Erdöl- und Erdgasexporten abhängen würde.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Snob.ru

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!