Pattsituation auf lange Sicht

Foto: ITAR-TASS

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Am 8. August 2008 moderierte ich die Morgensendung des Russischen Dienstes der BBC, als Nachrichten vom beginnenden Bombardement Südossetiens einliefen. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie überrascht ich war, dass dieser schon seit langem schwelende Konflikt außer Kontrolle geraten war. Plötzlich musste ich feststellen, dass mein Land ‒ Russland ‒ sich praktisch im Kriegszustand mit seinem Nachbarn befand ‒ erstmals seit dem 2. Weltkrieg. Das Gefühl der Fassungslosigkeit ist immer noch da. Für meine Sowjet-Generation ist die Tatsache, dass Russen und Georgier Feinde sein sollen, nur sehr schwer zu akzeptieren. Aber so ist die Realität. Ich habe Georgien nach dem Ende der Feindseligkeiten Ende 2008 besucht und bin mir nicht sicher, welche Folgen der Krieg für beide Länder haben wird.

In Russland sieht man diesen Krieg nach wie vor sehr positiv. Die Vorstellung, dass die russische Armee einer ehemaligen Sowjetrepublik, die es gewagt hat, sich nach Westen anstatt nach Moskau zu orientieren, eine Lektion erteilt hat, verträgt sich gut mit dem postimperialen Minderwertigkeitskomplex der Russen, die weiterhin großen Wert auf die Haltung "Macht hat Recht"  legen. Wie ich von zahllosen Moskauer Taxifahrern, diesen stets präzisen Seismographen für die öffentliche Meinung, so oft gehört habe, "hatten wir in der Sowjetzeit zwar nicht alle diese Waren in den Läden, aber wenigstens hatten alle Angst vor uns". Die Meinung, Russland habe in Südossetien nicht gegen Georgien, sondern gegen Amerika gekämpft, ist hier sehr populär. Sie verhilft den Russen zu einem höheren Selbstwertgefühl. Nebenbei gesagt, es ist ja durchaus reizvoll sich einzubilden, nicht gegen eine verarmte Nation zu kämpfen, mit einer Bevölkerungszahl, die halb so groß ist wie die Moskaus, sondern gegen die einzige verbleibende Supermacht der Welt ‒ und obendrein noch zu gewinnen.

Präsident Dmitri Medwedjew erinnerte die Russen kürzlich in einem Interview daran, dass er es gewesen sei, der die russischen Truppen in den Kampf geschickt hat ‒ und wollte damit andeuten, es sei seine Regierung gewesen, die die USA gedemütigt hat. Diese kleine Spitze war mit Sicherheit ein Vorgeschmack auf die beginnende Wahlschlacht. Zugleich rief Medwedjew aber Georgien dazu auf, seinen Einspruch gegen Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO zurückzunehmen, und zwar im Gegenzug zur, wie er es nannte, "vollen Normalisierung" der Beziehungen. Dieser Teil des Interviews mit dem Präsidenten warf ein Schlaglicht auf das Dilemma, in das Russland geraten ist, nachdem es nicht nur die georgische Armee aus Südossetien und Abchasien vertrieben, sondern die beiden abtrünnigen Gebiete auch noch als unabhängige Staaten anerkannt hatte.

Der georgische Präsident Micheil Saakaschwili lässt verlauten, Tiflis würde Russlands Beitritt zur WTO nichts in den Weg legen, wenn Moskau die Stationierung georgischer Zollbeamter oder ‒ alternativ ‒ internationaler Beobachter an den Grenzen zwischen Russland und Ossetien bzw. Russland und Abchasien zulassen würde. Dies wurde von den Russen rundweg abgelehnt ‒ Medwedjew machte das mehr als deutlich. Für Moskau würde die Erfüllung solcher Forderungen de facto die Aufhebung seiner Anerkennung von Südossetien und Abchasien als souveräne und unabhängige Staaten bedeuten.

War also Medwedjews Angebot einer Normalisierung der Beziehungen eine leere Phrase? Ich vermute, es war eher ein Appell an Washington ‒ für die Russen die eigentliche Macht in Georgien ‒, Druck auf Saakaschwili auszuüben und ihn zu zwingen, auf Moskaus Angebot einzugehen. Doch auch für den georgischen Präsidenten ist das undenkbar. Sein politisches Hauptargument ist, dass Südossetien und Abchasien integrale Bestandteile Georgiens waren, sind und sein werden ‒ obwohl beide eigentlich schon vor fast 20 Jahren durch eine Kombination aus lokalem Separatismus, russischem Druck und georgischer Kompromisslosigkeit verloren gegangen sind.

Russland macht einen Fehler, wenn es Saakaschwili als Marionette der Amerikaner ohne eigenes Gewicht abtut. Er ist kein Schwächling, sondern ein respektabler Gegner, der die begrenzte Anzahl seiner Karten mit bewundernswertem Geschick ausspielt. Dass die Russen ihn als Verrückten denunzieren, der vor den Internationalen Gerichtshof gestellt gehört, stärkt nur noch seine Stellung zu Hause und im Ausland. Seine Lobby-Arbeit in Washington hat dazu geführt, dass der Kongress die beiden abtrünnigen Republiken in einer Resolution als "besetzte Gebiete" bezeichnet hat ‒ und damit verhindert, dass die Moskau freundlich gesinnte Obama-Regierung Tiflis bezüglich Russlands Beitritt zur WTO unter Druck setzen konnte. Um dieses Problem zu lösen, muss Moskau alle zur Verfügung stehenden Register ziehen ‒ und es scheint, dass es gar nicht so viele hat.

Die Georgier werden, ob mit oder ohne Saakaschwili, die abtrünnigen Republiken womöglich niemals zurückbekommen. Die Russen werden ihre WTO-Mitgliedschaft vielleicht nicht erhalten. Und sie können auch nicht auf die diplomatische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens hoffen, mit der sie fest gerechnet hatten ‒ selbst von Seiten ihrer engsten Verbündeten wie Weißrussland. Die beiden möglichen Resultate liegen auf der Hand: Entweder Moskau nimmt die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zurück ‒ tatsächlich eine äußerst vage Hoffnung ‒, mit oder ohne Medwedjew und Putin. Oder Tiflis entschließt sich, den Verlust zu akzeptieren ‒ und nähert sich rasch einer Mitgliedschaft in der NATO und (schließlich) der EU. Auch das scheint in absehbarer Zeit nicht gerade wahrscheinlich zu sein.

Wie es aussieht, stecken Russland und Georgien wohl auf längere Sicht in einer Pattsituation fest.

Konstantin von Eggert ist politischer Analyst und Berater.  Er arbeitete 10 Jahre im BBC-Büro in Moskau, unter anderem als Redakteur, und hat zahlreiche Artikel zur Außenpolitik und innenpolitischen Situation in Russland für renommierte Zeitschriften wie "International Herald Tribune",  "Times", "La Croix" geschrieben.

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