Foto:East News
Die NATO-Operation Unified Protector (Vereinigte Schutzmacht) in Libyen verlief zu Beginn in puncto informatorischer Vorbereitung und technischer Ausführung nahezu ideal. Weltweit trat keine einzige Stimme mit politischem Gewicht für das Gaddafi-Regime ein, so dass das Wort „vereinigte“ mit konkretem Inhalt gefüllt wurde. Und die Entscheidung, bei der Operation auf Bodentruppen zu verzichten und sich lediglich auf Unterstützung der schlecht ausgerüsteten und nicht ausgebildeten Rebellen aus der Luft zu konzentrieren, verlieh auch dem Wort „Schutzmacht“ einen realen Sinn.
Alles verlief vergleichsweise gut, und trotzdem gelang es innerhalb eines halben Jahres nicht, Oberst Gaddafi zur Aufgabe zu zwingen. Deshalb siegte schließlich bei den Alliierten der Pragmatismus und der Krieg nahm doch noch seine übliche Form an.
Vor einer Woche prophezeiten alle vom Magazin Russkij Reportjor befragten Fachleute einstimmig: Früher oder später wird es auf eine direkte Beteiligung der alliierten Truppen an Bodenoperationen hinauslaufen. Diese Prognose sollte sich bewahrheiten. Die britische Presse schrieb unter Bezugnahme auf Quellen im Verteidigungsministerium, dass britische Verbände, bestehend aus Veteranen des Afghanistan- und Irakkrieges, die zu privaten Truppen übergewechselt sind, sowie Soldaten der regulären britischen Armee im Rahmen des Sondereinsatzkommandos am Sturm von Tripolis beteiligt waren. Danach räumte der britische Verteidigungsminister Liam Fox ein, dass Rebellen Zugang zu Erkenntnissen des britischen Nachrichtendienstes erhalten hätten. Gleichzeit wurde bekannt, dass an den Bodenoperationen gegen Gaddafi Soldaten von mindestens drei weiteren Staaten beteiligt waren – von Frankreich, Katar und Jordanien. Vor ungefähr einem Monat lösten die Franzosen und Briten ihre Kommandostäbe in der Umgebung der Stadt Es-Suwai-tin im Osten Libyens auf.
Die NATO verstieß dadurch eindeutig gegen die Resolution Nr. 1973 des UN-Sicherheitsrates, die lediglich den Krieg in der Luft erlaubt hatte. Doch die Rebellen erzielten durch diese Kampagne ihren bislang größten Sieg.
Ein neues Zentrum des Islamismus
Der Sturm auf Tripolis wurde von einer unglaublichen Informationskampagne arabischer und westlicher Medien begleitet, die den Eindruck entstehen ließ, die totale Niederlage des Gaddafi-Regimes stünde unmittelbar bevor. Die Nachrichten über den Fall der Stadt Tripolis wurden zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, als die Rebellen lediglich einen kleinen Teil der Stadt kontrollierten, in dem sich in der Woche danach noch immer lokale Kämpfe abspielten.
Die unzähligen Berichte über die Eroberung, über Gaddafis Flucht außer Landes, den Tod von Gaddafi und dessen Söhnen sowie den Umzug der nationalen Übergangsregierung der Rebellen nach Tripolis erschienen fast zeitgleich und sind bis zum jetzigen Zeitpunkt noch immer nicht offiziell bestätigt. Der Informationsfluss ließ eine Zeit lang den Eindruck entstehen, Gaddafis Truppen kontrollierten nur noch dessen von allen Seiten umzingelte Residenz in Tripolis. In der Folgezeit stellte sich jedoch heraus, dass sich möglicherweise noch immer ein Drittel bis die Hälfte des libyschen Territoriums in den Händen der Gaddafi-Anhänger befindet.
Unterdessen kommt nach und nach das Gesicht der Übergangsregierung zum Vorschein. Dessen Züge erinnern zum Teil an die dramatischen Prognosen russischer Orientalisten, die bereits vor einem halben Jahr die Verwandlung Libyens in das neue und wichtigste nordafrikanische Zentrum des radikalen Islamismus prophezeiten. So ist beispielsweise der Chef des Militärrats der Rebellen in Tripolis Abdel Hakim Belhaj der ehemalige Emir der libyschen islamischen Kampfgruppe (LIFG), die sich nach den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 auf der internationalen Liste der terroristischen Organisationen befand. Genau wie der in diesem Sommer ermordete Ex-Terrorist Nr. 1 Osama bin Laden erwarb auch er ein Ingenieur-Diplom, legte sich mehrere Ehefrauen zu und ging nach Afghanistan, um dort Seite an Seite mit den Mudschaheddin gegen die UdSSR zu kämpfen. In den 90er Jahren kehrte er – genau wie bin Laden – am Vorabend der neuen Invasion der „Ungläubigen“ nach Afghanistan zurück, doch 2004 wurde er von den Amerikanern gefasst. Diese lieferten Belhaj an dessen Heimatland Libyen aus, wo er nach vier Jahren Gefängnis auf freien Fuß kam und versprach, den Kampf nicht weiterzuführen.
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Iran gegen Gaddafi
Drei Jahre später war er nun gemeinsam mit seinen Waffenbrüdern von der LIFG Anführer des Sturms auf Tripolis. Rebellenangaben zufolge wurden dabei in der Stadt ungefähr 10.000 Gefangene auf freien Fuß gesetzt. Wie viele ehemalige islamistische Kämpfer sich unter ihnen befanden, weiß niemand.
Je mehr sich das Kräftezentrum im Lande von Gaddafi zu den Rebellen verlagert, desto mehr rücken natürlich deren Handlungen und deren Rhetorik ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wie sich herausstellte, befand sich der Iran die ganze Zeit über unter deren Sponsoren – zumindest versorgte er die Rebellen mit Medikamenten und Lebensmitteln. Der Vorsitzende der nationalen Übergangsregierung Mustafa Abdul Dschalil bedankte sich offiziell beim iranischen Präsidenten Machmud Ahmadinedschad für die Unterstützung.
Wie in Ägypten, wo nach dem Sturz des Mubarak-Regimes die neue Revolutionsregierung eine noch schärfere außenpolitische Position vertrat, demonstrieren nun auch die libyschen Rebellen, dass die Losungen der Freiheit und Demokratie auf ihren Bannern voll und ganz mit einer radikaleren und härteren Außenpolitik vereinbar sind. Übrigens betrifft dies auch hier nicht die Wirtschaft, bei der die neue Regierung dringend auf Unterstützung angewiesen ist. Als eine der ersten Amtshandlungen der Rebellen nach der Einnahme von Tripolis wurde die Gasleitung von Libyen nach Europa wieder in Betrieb genommen.
Ethnische Konflikte
Einige Aspekte der libyschen Politik blieben jedoch auch hier trotz des Übergangs der Macht von Gaddafi auf seine Gegner unverändert. Es gibt immer mehr Berichte über Angriffe auf Vertreter der schwarzafrikanischen Minderheit Libyens – dem Volk der Tubu - in den von den Rebellen eroberten Städten. Unter Gaddafi hatten sie unter Diskriminierung zu leiden, sogar die Staatsbürgerschaft war ihnen entzogen worden. Und im nun tobenden Bürgerkrieg und den Auseinandersetzungen zwischen den Stämmen im Lande ist die Lage dieser unbedeutenden, jedoch auffälligen ethnischen Minderheit nunmehr weitaus dramatischer geworden.
Dem Land Libyen stehen in der nächsten Zeit die entscheidenden Kämpfe um Sirte, die Regionen südlich der Hauptstadt und den Süd-Westen des Landes bevor. Auch deren Ausgang scheint vorausbestimmt, da die Koalitionspartner beim Kampf um Tripolis ihre Bereitschaft demonstrierten, sowohl gegen die UN-Resolutionen als auch ihre eigenen Zusicherungen zu verstoßen, um Gaddafi zu stürzen. Dabei nimmt die Umwandlung auch dieses einst ungeteilten islamischen Landes – nach Afghanistan, Somalien, Irak und dem Jemen – in ein Konglomerat von faktisch unabhängigen und unter sich verfeindeten Territorien immer klarere Züge an.
Die ungekürzte Fassung dieses Beitrags erschien zuerst im Magazin Russkij Reportjor.
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