Alexej Pdszerob. Foto: Vesti 24
Wie schätzen Sie die Situation in Libyen ein?
Nach den
neuesten Angaben ist Tripolis noch nicht erobert worden. Dort gibt es immer
noch Widerstandsherde. Selbst die Rebellen gestehen ein, dass zehn Prozent der
Stadt weiter unter der Kontrolle der Regierung ist.
Die
Aufständischen haben also noch nicht die Macht in Libyen übernommen?
Nein. Laut
Medienberichten halten sich die Regierungstruppen in der Nähe von Sirte auf.
Auch Fezzan ist weiter unter der Kontrolle der Regierungstruppen. Es ist noch
zu früh, um von einem vollständigen Sieg zu sprechen. Es gibt zwar große
Teilerfolge, jedoch keinen endgültigen Sieg.
Ist es möglich,
dass sich die Situation noch komplett verändert?
Ich denke
nicht. Dabei geht es um das Kräfteverhältnis. Warum hat die Opposition
triumphiert? Dank der Unterstützung der Nato. Es hat rund 20.000
Nato-Luftangriffe und 5000 US-Luftangriffe gegeben – also insgesamt 25.000
Luftschläge gegen eine 30.000 Mann starke libysche Armee. Die Überlegenheit der
Nato-Kräfte war so eindeutig, dass es sogar verwunderlich ist, dass die
libysche Armee sechs Monate lang Widerstand geleistet hat.
Die
Aufständischen haben sich gegen Nato-Truppen in Libyen ausgesprochen, nachdem
sie die Kontrolle über das ganze Land übernommen haben.
Ja, das haben sie gesagt. Es ist gut möglich,
dass es tatsächlich dazu kommt. Der Grund dafür ist, dass die Libyer eine
Allergie gegen ausländische Präsenz haben. Doch sie haben zur ausländischen
Hilfe gegriffen, obwohl es sich nur um Hilfe der Luftwaffe handelte. Vielleicht
waren in Libyen tatsächlich europäische Spezialeinheiten im Einsatz, doch das
war keine große Bodenoperation.
Könnte es dazu
kommen?
Ja,
selbstverständlich. Es gibt nur eine Ausnahme: Falls in Libyen der Krieg „gegen
alle“ beginnt, werden sie die Nato um Hilfe bitten. Doch die Frage ist, ob die
Nato darauf eingeht.
Inwieweit ist es
für die Nato strategisch wichtig, in Libyen zu bleiben?
Ich denke,
das spielt jetzt keine große Rolle. Der Kalte Krieg ist vorbei. Früher hatte es
in Libyen zwei Militärstützpunkte gegeben: einen britischen
Luftwaffenstützpunkt und einen US-Raketenstützpunkt bei Tripolis. Sie waren
gegen die Sowjetunion gerichtet. Jetzt gibt es keine Sowjetunion mehr. Der
Kalte Krieg ist vorbei – es gibt keine Konfrontation zwischen Russland und der
Nato.
Ist die Präsenz
in Libyen für die USA angesichts der großen Ölvorräte wichtig?
Ja,
selbstverständlich. Obwohl die Kontrolle über das Öl nicht unbedingt mit Hilfe
von Militärstützpunkten gewährleistet werden sollte. Für die USA spielt die
Kontrolle über das libysche Öl eine sehr große Rolle.
Wie sieht
Russlands Position in dieser Frage aus? Einige behaupten, dass Russland mit den
Aufständischen „kokettieren“ muss, um seine Wirtschaftspräsenz zu sichern, wenn
sie an die Macht kommen.
Russland
hatte von Anfang an Kontakt sowohl zur Regierung als auch zu den Aufständischen
gehabt und strebte nach einer Lösung des Konflikts.
Viele sagen,
dass Russland zunächst zwischen beiden Konfliktseiten laviert und danach den
Sieger unterstützt.
Das eine
schließt das andere nicht aus. In einem diplomatischen Spiel gibt es gewöhnlich
nicht ein, sondern mehrere Ziele. Russland (der russische Außenminister Sergej
Lawrow persönlich) befasste sich tatsächlich mit der Regelung dieses Konflikts.
Doch seine Anstrengungen hatten keinen Erfolg. Viele Todesopfer hätten
vermieden werden können. Die Position des Außenministeriums hielt sich an das
Prinzip: Beziehungen werden zu den Staaten und nicht zu Regierungen gepflegt.
Es werden Staaten und nicht Regimes anerkannt. Ich denke, Russland wird damit
keine Probleme haben. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir die
Wirtschaftsbeziehungen ausbauen werden. Russland ist in Libyen an Öl und der
Errichtung eines Bahnnetzes interessiert. Dabei geht es um sechs Milliarden
US-Dollar. Meines Erachtens gibt es weiter die Chance, dies zu verwirklichen.
Doch angesichts der Besonderheiten der arabischen Welt ist es sehr schwer,
darüber mit einer 100-prozentiger Sicherheit zu sprechen. Ein US-Unternehmer
hatte vor kurzem offen gesagt, dass die USA das libysche Öl schneller in die
Hände bekommen müsse. Doch man sollte eine Wiederholung des Irak-Szenarios
vermeiden, als die Bemühungen um die Projekte vergeblich waren. In Libyen
kontrolliert vor allem die staatliche Ölkorporation die Ölvorkommen im Land.
Russland gehört aber nicht zu den größten Wirtschaftspartnern Libyens.
Kann sich das
ändern?
Das ist eine
sehr schwierige Frage. Wenn man sich an die Irak-Situation erinnert, so wurde
dort zunächst verkündet, dass die Ölkonzessionen an Staaten vergeben werden,
die an dem Einmarsch teilgenommen haben. Zu Beginn war das tatsächlich so
gewesen. Doch die russischen Unternehmen sind mittlerweile stark an der
Ölförderung im Irak beteiligt. Falls die Verträge mit den Ölunternehmen und der
Russischen Bahn nicht korrigiert werden, ist es möglich, dass Russland nach
Libyen zurückkehrt.
Wie lange werden
die Gefechte in Libyen noch dauern? Ist ein ähnliches Szenario in anderen
Ländern zu erwarten?
Es ist sehr
schwierig mit Vorhersagen in der arabischen Welt. Libyen ist voller
Widersprüche – zwischen Arabern und Berbern, unterschiedlichen Stämmen. Wenn diese
Widersprüche nicht zu einer Explosion führen, ist das ein Wunder. Der Nationale
Übergangsrat arbeitet jetzt an einem Dokument, laut dem die Parlamentswahlen
erst in zwei Jahren stattfinden sollen.
Vielen Dank für Ihre Zeit und
Kommentare.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.
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