Libyen schlittert ins Ungewisse

Alexej Pdszerob. Foto: Vesti 24

Alexej Pdszerob. Foto: Vesti 24

Im Interview mit RIA-Novosti spricht Alexej Podzerob, russischer Ex-Botschafter in Libyen von 1992 bis 1996, über die Zukunft Libyens und die Chancen der russischen Unternehmen auf Geschäfte.

Wie schätzen Sie die Situation in Libyen ein?


Nach den neuesten Angaben ist Tripolis noch nicht erobert worden. Dort gibt es immer noch Widerstandsherde. Selbst die Rebellen gestehen ein, dass zehn Prozent der Stadt weiter unter der Kontrolle der Regierung ist.

Die Aufständischen haben also noch nicht die Macht in Libyen übernommen?

Nein. Laut Medienberichten halten sich die Regierungstruppen in der Nähe von Sirte auf. Auch Fezzan ist weiter unter der Kontrolle der Regierungstruppen. Es ist noch zu früh, um von einem vollständigen Sieg zu sprechen. Es gibt zwar große Teilerfolge, jedoch keinen endgültigen Sieg.

Ist es möglich, dass sich die Situation noch komplett verändert?

Ich denke nicht. Dabei geht es um das Kräfteverhältnis. Warum hat die Opposition triumphiert? Dank der Unterstützung der Nato. Es hat rund 20.000 Nato-Luftangriffe und 5000 US-Luftangriffe gegeben – also insgesamt 25.000 Luftschläge gegen eine 30.000 Mann starke libysche Armee. Die Überlegenheit der Nato-Kräfte war so eindeutig, dass es sogar verwunderlich ist, dass die libysche Armee sechs Monate lang Widerstand geleistet hat.

Die Aufständischen haben sich gegen Nato-Truppen in Libyen ausgesprochen, nachdem sie die Kontrolle über das ganze Land übernommen haben.

Ja, das haben sie gesagt. Es ist gut möglich, dass es tatsächlich dazu kommt. Der Grund dafür ist, dass die Libyer eine Allergie gegen ausländische Präsenz haben. Doch sie haben zur ausländischen Hilfe gegriffen, obwohl es sich nur um Hilfe der Luftwaffe handelte. Vielleicht waren in Libyen tatsächlich europäische Spezialeinheiten im Einsatz, doch das war keine große Bodenoperation.

Könnte es dazu kommen?

Ja, selbstverständlich. Es gibt nur eine Ausnahme: Falls in Libyen der Krieg „gegen alle“ beginnt, werden sie die Nato um Hilfe bitten. Doch die Frage ist, ob die Nato darauf eingeht.

Inwieweit ist es für die Nato strategisch wichtig, in Libyen zu bleiben?

Ich denke, das spielt jetzt keine große Rolle. Der Kalte Krieg ist vorbei. Früher hatte es in Libyen zwei Militärstützpunkte gegeben: einen britischen Luftwaffenstützpunkt und einen US-Raketenstützpunkt bei Tripolis. Sie waren gegen die Sowjetunion gerichtet. Jetzt gibt es keine Sowjetunion mehr. Der Kalte Krieg ist vorbei – es gibt keine Konfrontation zwischen Russland und der Nato.

Ist die Präsenz in Libyen für die USA angesichts der großen Ölvorräte wichtig?

Ja, selbstverständlich. Obwohl die Kontrolle über das Öl nicht unbedingt mit Hilfe von Militärstützpunkten gewährleistet werden sollte. Für die USA spielt die Kontrolle über das libysche Öl eine sehr große Rolle.

Wie sieht Russlands Position in dieser Frage aus? Einige behaupten, dass Russland mit den Aufständischen „kokettieren“ muss, um seine Wirtschaftspräsenz zu sichern, wenn sie an die Macht kommen.

Russland hatte von Anfang an Kontakt sowohl zur Regierung als auch zu den Aufständischen gehabt und strebte nach einer Lösung des Konflikts.

Viele sagen, dass Russland zunächst zwischen beiden Konfliktseiten laviert und danach den Sieger unterstützt.

Das eine schließt das andere nicht aus. In einem diplomatischen Spiel gibt es gewöhnlich nicht ein, sondern mehrere Ziele. Russland (der russische Außenminister Sergej Lawrow persönlich) befasste sich tatsächlich mit der Regelung dieses Konflikts. Doch seine Anstrengungen hatten keinen Erfolg. Viele Todesopfer hätten vermieden werden können. Die Position des Außenministeriums hielt sich an das Prinzip: Beziehungen werden zu den Staaten und nicht zu Regierungen gepflegt. Es werden Staaten und nicht Regimes anerkannt. Ich denke, Russland wird damit keine Probleme haben. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir die Wirtschaftsbeziehungen ausbauen werden. Russland ist in Libyen an Öl und der Errichtung eines Bahnnetzes interessiert. Dabei geht es um sechs Milliarden US-Dollar. Meines Erachtens gibt es weiter die Chance, dies zu verwirklichen. Doch angesichts der Besonderheiten der arabischen Welt ist es sehr schwer, darüber mit einer 100-prozentiger Sicherheit zu sprechen. Ein US-Unternehmer hatte vor kurzem offen gesagt, dass die USA das libysche Öl schneller in die Hände bekommen müsse. Doch man sollte eine Wiederholung des Irak-Szenarios vermeiden, als die Bemühungen um die Projekte vergeblich waren. In Libyen kontrolliert vor allem die staatliche Ölkorporation die Ölvorkommen im Land. Russland gehört aber nicht zu den größten Wirtschaftspartnern Libyens.

Kann sich das ändern?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Wenn man sich an die Irak-Situation erinnert, so wurde dort zunächst verkündet, dass die Ölkonzessionen an Staaten vergeben werden, die an dem Einmarsch teilgenommen haben. Zu Beginn war das tatsächlich so gewesen. Doch die russischen Unternehmen sind mittlerweile stark an der Ölförderung im Irak beteiligt. Falls die Verträge mit den Ölunternehmen und der Russischen Bahn nicht korrigiert werden, ist es möglich, dass Russland nach Libyen zurückkehrt.

Wie lange werden die Gefechte in Libyen noch dauern? Ist ein ähnliches Szenario in anderen Ländern zu erwarten?

Es ist sehr schwierig mit Vorhersagen in der arabischen Welt. Libyen ist voller Widersprüche – zwischen Arabern und Berbern, unterschiedlichen Stämmen. Wenn diese Widersprüche nicht zu einer Explosion führen, ist das ein Wunder. Der Nationale Übergangsrat arbeitet jetzt an einem Dokument, laut dem die Parlamentswahlen erst in zwei Jahren stattfinden sollen.

Vielen Dank für Ihre Zeit und Kommentare.


Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti.

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