Wie ein Komet, der zur Erde stürzte

Denkmal für die Dichterin
 vor dem Zwetajewa-Museum in Moskau. Foto: RIA Novosti.

Denkmal für die Dichterin
 vor dem Zwetajewa-Museum in Moskau. Foto: RIA Novosti.

„In der Gegenwart und in der Zukunft ist für mich kein Platz“, sagte Zwetajewa, und tatsächlich vergingen nach ihrem Tod Jahrzehnte, bis die Welt die Dichterin wiederentdeckte.

„Ich würde gerne auf dem Chlysten-Friedhof von Tarussa unter einem Holunderstrauch liegen, in einem jener Gräber mit den silbernen Tauben, dort, wo die größten und rötesten Walderdbeeren wachsen.“

Marina Zwetajewa schrieb es im Exil. Tarussa an der Oka, 100 Kilometer südlich von Moskau, war der Ort ihrer Kindheit, jener 
üppigen, wilden Sommer, die mit einem Schicksalsschlag abrupt endeten: Sie ist 14, als die Mutter an Tuberkulose stirbt.

Der Schlusspunkt ihrer Biografie, die den Stoff für eine griechische Tragödie hergibt: ein Grab im tatarischen Jelabuga, weitab von der Idylle ihrer Kindheit. Zwetajewa war an diesem trostlosen Ort gestrandet, nach jahrelangen Irrfahrten. Am 31. August 1941 nahm sie sich das Leben.

1892 als Tochter eines Kunstprofessors und einer deutschstämmigen Pianistin geboren, wuchs Marina in Moskau auf. Sie sprach fließend Französisch und Deutsch, begleitete die kranke Mutter nach Italien, lebte in Internaten in der Schweiz und in Freiburg.

Gegen Vulgarität und Diktate

1919 schrieb sie in ihr Tagebuch: „In mir sind viele Seelen. Doch meine Hauptseele ist deutsch. In mir sind viele Ströme, doch mein Hauptstrom ist der Rhein. … Wenn man mich fragt: ‚Wer ist Ihr Lieblingsdichter‘, verschlucke ich mich zuerst, dann schleudere ich gleich ein Dutzend deutscher Namen auf einmal hervor.“

Heine, Hölderlin und Goethe, vor allem Rilke, gehörten zu ihren Lieblingen und poetischen Partnern. Doch auch im Exil in Berlin, Prag und Paris, in das sie ab 1922 die Umbrüche in Russland trieben, verließ die Sehnsucht nach der Heimat sie nie.

Wo und wie sie auch lebte (jedoch stets unter dem Existenzminimum), focht sie gegen Vulgarität und Diktate, war nur ihrem 
Gewissen verpflichtet. Ihr Leben und Werk sind Ausdruck von Provokation und radikaler Wahrhaftigkeit, ihre großen Themen: Liebe und wieder Liebe, die Kunst, der leidenschaftliche Konflikt zwischen irdischer Existenz und metaphysischem Sein. Sie war ein Komet, der zur Erde stürzte. Rilke hat es gewusst. Seine Elegie an sie beginnt: „O die Verluste ins All, Marina, die stürzenden Sterne!“. Die Zwetajewa verdichtete nicht nur Innenwelten, sondern das Wesen ihrer Zeit in Wortschöpfungen und Rhythmus zu universellen und starken poetischen Bildern. Wie im Brennglas bündeln sich in ihrem Schicksal und Werk die Höhen, Unruhen und Abgründe der großen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.

Im Juni 1939 reiste die Dichterin mit ihrem 16-jährigen Sohn 
Georgij, von düsteren Vorahnungen gequält, nach 17 Jahren Exil zurück in die Sowjetunion. Zwei Jahre zuvor waren ihre Tochter Ariadne als überzeugte Kommunistin und ihr Mann Sergej Efron, der in die Schlinge des sowjetischen Geheimdienstes geraten war, heimgekehrt.

Keiner aus der Familie ahnte das Ausmaß des Stalinterrors. Die Realität belehrte sie eines Besseren: Im August 1939 wird Ariadne verhaftet, im Oktober Sergej Efron. Zwetajewa irrt mit Georgij von Provisorium zu Provisorium. Den Alltag dominieren Existenzangst, die Verantwortung für den hochbegabten Sohn und die Unmöglichkeit, auch nur eine einzige Gedichtzeile drucken zu dürfen. Dann fallen deutsche Bomben auf Moskau, überstürzt entscheidet sie sich für die Evakuierung; nach zwölf Tagen Schifffahrt erreichen Mutter und Sohn Tatarstan.

Als die Bäuerin am 31. August 1941 nach Hause kommt, stößt sie gegen einen Stuhl, darüber hängt ihre Mieterin, das Haar grau, das Gesicht von Entbehrungen gezeichnet, die Hände abgearbeitet und gelb vom Rauchen. Die Silberringe findet die Polizei, die zwei Stunden später eintrifft, nicht mehr – sie sind gestohlen. In der Schürze der 49-jährigen steckt ein Notizbüchlein mit dem Wort Mordwinien - dort vermutete sie ihre Tochter im Lager.

Ruhm zum 100. Geburtstag

Die Verhaftung der Angehörigen, Demütigungen durch Behörden und Kollegen und Streitereien mit dem pubertären Sohn hatten die Kräfte der Dichterin verzehrt, doch den letzten, tödlichen Schlag versetzten ihr, das wissen wir heute, die „Organe“. Als „Remigrantin“ und Ehefrau eines ehemals weißen Offiziers stand sie per se unter Verdacht und wurde überwacht. Der Geheimdienst wollte sie zur Mitarbeit erpressen. Zwetajewa lehnte ab. „Selbstmord gibt es nicht, es gibt nur Mörder“, schrieb sie über die Dichterkollegen Jessenin und Majakowskij, die aus dem Leben schieden. Oder getrieben wurden.

Ab den 60er-Jahren wurde die Dichterin in ihrer Heimat zögerlich veröffentlicht, zum 100. Geburtstag 1992 gab es einen Zwetajewa-Boom, der über die Öffnung ihres Archivs im Jahre 2000 hinaus anhielt. Ihre Tagebücher, die ihres Sohnes, der Schwester Anastasija und der umfangreiche Briefwechsel der Dichterin sowie ihrer Tochter sind nun ungekürzt veröffentlicht, doch die Forschung hält nicht Schritt, denn Zwetajewas Werk ist ein Kosmos.

Als Ariadne Efron 1955 aus dem Lager entlassen wurde, fand sie kein einziges Grab: Hinter den Mauern des Geheimdienstes war im Herbst 1941 ihr Vater erschossen worden, ihr Bruder fiel 1944 mit 19 Jahren an der lettischen Front, das Grab der Mutter war nicht mehr zu identifizieren. Es gibt nun eine Gedenkstätte in Jelabuga – und einen Gedenkstein in Tarussa, dem Sehnsuchtsort der Dichterin. Denn der Weg von Dichtern gleicht dem von Kometen - unvorhersehbar und „maßlos in einer Welt nach Maß …“.

Klage des Zorns und der Liebe!

Klage des Zorns und der Liebe!

Salz, das auf Augen ruht!

Oh, und Böhmen in Tränen!


Oh, und Spanien im Blut!

O schwarzer Berg, der du das

Licht verdunkelt hast!

Zeit ist, Zeit, dem Schöpfer

Hinzuwerfen den Pass.

Ich weigre mich zu leben

Im Tollhaus, unter Vieh.

Ich weigre mich, ich heule

Mit den Wölfen nie.

Ich weigre mich zu schwimmen

Als Hai des Lands, stromab

Den Strom gebeugter Rücken –

Ich weigre mich, lehn ab.

Ablehn ich, dass ich höre,

Ablehn ich, dass ich seh.

Auf diese Welt des Irrsinns

Gibt es nur eins: ich geh.

Paris, März – Mai 1939

Marina Zwetajewa: Vogelbeerbaum. Ausgewählte Gedichte, 
herausgegeben von Fritz Mierau, 
Verlag Klaus Wagenbach, 1968/1986 

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