Nachricht aus dem Niemandsland

Über den Zweiten Weltkrieg schien im Kino schon alles erzählt, ein deutsch-russisch-ukrainischer Film überrascht nun mit einer höchst ungewöhnlichen Perspektive.

4 Tage im Mai

Die Uraufführung des Films von Achim von Borries im August auf dem Filmfestival von Locarno löste heftige Diskussionen aus. Die Kritiker stritten. Das Publikum auf der Piazza Grande, wo den Film an die achttausend Zuschauer sahen, reagierte hingegen
einhellig mit Zustimmung, Ergriffenheit und Beifall.

Kinostart: 29. September 2011

Regie, Drehbuch: Achim von Borries

Produzent: Stefan Arndt

Darsteller: Pavel Wenzel, Aleksei Guskov, Grigory Dobrygin, Angelina Häntsch, Gertrud Roll, Alexander Held, Martin Brambach, Sergey Legostaev, Merab Ninidze

www.4tageimmai.x-verleih.de

„4 Tage im Mai“ spielt im gleichsam leeren Raum-Zeit-Gefüge zwischen Noch-Krieg und Noch-nicht-Frieden auf einer Insel vor der deutschen Ostseeküste. Es ist Anfang Mai 1945. Acht Männer der sowjetischen Armee besetzen ein Waisenhaus. Eine couragierte Exilrussin (Gertrud Roll), nach der Oktoberrevolution hierher geflohen, hat das Heft fest in der Hand. Sie kennt nur ein Ziel: Die ihr anvertrauten Kinder müssen überleben. Die Situation spitzt sich zu, als rund einhundert Soldaten der Deutschen Wehrmacht von der Insel nach Dänemark fliehen wollen, weg von der Roten Armee zu den Engländern, bei denen sie auf eine schonendere Behandlung hoffen.

Front zwischen Gut und Böse

Zwischen den feindlichen Truppenresten fürchten die Mädchen des Waisenhauses um ihr Überleben. Nur ein Junge ist dabei: Den Dreizehnjährigen Peter (Pavel Wenzel) haben die Schrecken der vorausgegangenen Kriegsjahre früh reifen lassen. Er ist kein Kind mehr, aber auch kein Mann. Doch der Junge fühlt sich als Patriot. Geprägt von der Nazipropaganda sieht er in den Russen nur den Feind, den es zu bekämpfen gilt. Bei dem Versuch gerät er zwischen die Fronten und muss erkennen, dass es nicht um Deutsche und Russen geht, sondern, ganz grundsätzlich, um Gut und Böse.

Drehbuchmitautor und Regisseur Achim von Borries bedient keine der üblichen Antikriegsfilmmuster. Seine Inszenierung ist kammerspielartig, dabei effektsicher auf der Klaviatur der Dramatik spielend. Indem er weitgehend auf Pathos und Kampfhandlungen verzichtet, gelingt es ihm, die Absurdität allen Mordens im Namen einer Ideologie bloßzustellen.

Konzentriert auf das scheinbar Kleine, wird die große Welt abgebildet. Wobei um der Spannung willen nicht verraten sei, welchen unerhörten Verlauf die Geschichte nimmt. Nur so viel: Eindrucksvoll, geradezu brutal, wird wieder einmal deutlich, dass eine 
kathegorische Einteilung in Gut und Böse nicht möglich ist.

Echte Gefühle, wenig Pathos

„4 Tage im Mai“ verfolgt konsequent die emotionalen Wandlungen seiner Figuren. Jeder muss auf seine Art durch die Hölle gehen. Peter allen voran. Sein Gegenüber, ein Hauptmann der Roten Armee (Aleksei Guskov), hat die Hölle längst hinter sich. Der Krieg hat ihm den Sohn genommen. Er selbst, weil er einmal gegen einen Befehl auf Vernunft gesetzt hat, saß lange Zeit in Militärhaft. Das wird nur angedeutet, doch es prägt sich dem Zuschauer unmittelbar ein und macht die tiefe Humanität des Hauptmanns glaubwürdig. Da steht ein Mensch, kein Uniformträger, kein Ideologe. In seiner Figur haben Drehbuch, Regie und Darstellung Hervorragendes geleistet, ohne in Sentimentalität und Klischees abzugleiten.

Viele bekannte Klassiker des Antikriegsfilms kommen einem in den Sinn: „Die Brücke“, „Die Kraniche ziehen“, „Komm und sieh“, „Das alte Gewehr“. Sie alle entlarvten auf unterschiedliche Weise ideologischen Pathos und die Greuel des Zweiten Weltkriegs. Woran liegt es, dass „4 Tagen im Mai“ deren überwältigende Emotionalität und Stringenz nicht durchgängig umsetzen kann? An Simplem: Der Einsatz von illus-trierender Musik ist an manchen Stellen geradezu störend. Es stellt sich der Verdacht ein, dass die Gefühle der Zuschauer über den Soundtrack manipuliert werden sollen. Als hätte Achim von Borries nicht genug Vertrauen in die Kraft der Bilder und Dialoge gesetzt.

Über seine Bilder und Dialoge entfaltet sich jedoch die ganze Wirkung des Films. Der Wahn des Krieges wird in den zerschundenen Gesichtern der Soldaten, in den alten Augen des Jungen, in der von erduldetem Leid geprägten Körpersprache der Frauen auf erschütternde Art deutlich.

Eine Besonderheit von „4 Tage im Mai“ ist seine Besetzungsliste: Die deutschen Soldaten werden von deutschen Schauspielern gespielt, die russischen von russischen. So konsequent gab es das noch nie in einem Film dieses Genres. Aleksei Guskov erzählte denn auch in Locarno, dass diese Art des Casting für ihn und seine Landsleute geradezu befreiend gewirkt habe. Einer seiner russischen Kollegen, Jahrzehnte nach der Zeit der Filmhandlung geboren, ergänzte: „Für mich ist durch die Dreharbeiten der Krieg zwischen dem deutschen und meinem Volk erst jetzt wirklich beendet.“ Das klingt in deutschen Ohren pathetisch. Wer einmal in Russland war, weiß, dass die Wunden nach wie vor nicht verheilt sind. Insofern ist der Film brandaktuell.

Interview mit dem Hauptdarsteller Aleksei Guskow

Aleksei Guskow. Foto: www.guscov.ru

Herr Guskov, wie würden Sie die Rolle des Hauptmanns beschreiben, den Sie in „4 Tage im Mai“ spielen?

Er hat im Krieg seine ganze Familie verloren und ist dennoch bereit, sein eigenes Leben zu opfern, um die deutschen Kinder zu retten.

Worin unterscheidet sich der Film von anderen Kriegsfilmen?

Der Film handelt nicht vom Krieg, sondern von Menschen, die in den letzten Kriegstagen zu menschlichen Werten zurückkehren, die wieder Ehemänner, Väter und Brüder werden und ihr Leben riskieren, um andere zu schützen.

Der Zweite Weltkrieg hat für Russland und Deutschland eine besondere Bedeutung. Aber früher gab es wenig Verständigung. Warum?

Deutsche und Russen sehen diesen Krieg unterschiedlich. Für die Deutschen ist er wie eine Geschichtsstunde, Vergangenheit. Für die Russen ist er noch sehr lebendig, ist eng verbunden mit dem Stolz auf das eigene Land, mit den sehr emotionalen Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai. Deshalb ist es schwierig, zu dem Thema ein gemeinsames Projekt zu machen und nicht die Veteranen zu beleidigen oder diejenigen, in deren Familien Menschen gestorben sind. Einerseits darf man nicht die historische Wahrheit verfälschen, andererseits wollten wir aber zeigen, dass wir alle Menschen sind, dass Russen und Deutsche Fehler machen und sich irren, aber dass wir trotz allem die gleichen Werte vertreten.

Wie lief die Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Schauspielern?

Unser Film ist nicht nur auf finanzieller Ebene eine Koproduktion, sondern auch auf künstlerischer. Bei den Dreharbeiten war es sehr interessant, Meinungen 
auszutauschen und die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Protagonisten zu diskutieren. Und es gab sehr viele Diskussionen. Aber es waren besondere Momente, wenn sich aus diesen gemeinsamen Überlegungen am Ende 
eine Lösung herauskristallisierte.

Werden sich die Reaktionen auf den Film in Russland und Deutschland unterscheiden?

Der Film wurde schon auf dem Filmfestival von Locarno und auf dem
Festival „Fenster nach Europa“ im
russischen Wyborg gezeigt. Die Zuschauer reagierten ähnlich. Sie waren sehr berührt und lachen an denselben Stellen - und verstummen auch an 
denselben Stellen.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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