Allein die Lomonossow-Universität kostete 2,6 Milliarden Rubel - mehr als der Wiederaufbau Stalingrads. Foto: jurvetson
Ab und zu brauchte auch der atheistisch geprägte Sowjetmensch ein Zeichen von oben. Und es wurde ihm gesandt: Das Pionierlager „Artek“ auf der Krim, die Volkswirtschaftsmesse in Moskau, die Moskauer Metro – alles Vorboten des kommunistischen Himmelreichs auf Erden, das irgendwann kommen musste, war der realsozialistische Alltag auch noch so grau. Den Zweiflern zum Trotz wurde in Moskau schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein weiteres Mal ganz dick aufgetragen. Josef Stalin, „Vater und Freund der sowjetischen Architekten“, wie es auf dem Architektenkongress 1946 hieß, wollte mit einem gewaltigen Städtebauprojekt nach innen und außen das Selbstbewusstsein der Siegernation demonstrieren. Anfang 1947 beschloss der Ministerrat den Bau von acht „Vielgeschossern“.
Die „Vielgeschosser“, gebaut ab 1949 und – mit einer Ausnahme – nach jeweils drei bis fünf Jahren fertiggestellt, wurden später als „Zuckerbäckerbauten“ bekannt und als „sieben Schwestern“ – nicht mitgezählt Exportvertreter wie den Warschauer Kulturpalast. Längst sind sie Wahrzeichen von Moskau: die Lomonossow-Universität auf den Sperlingsbergen, mit ihren 240 Metern erst 1990 vom Frankfurter Messeturm als höchstes Gebäude Europas abgelöst, das Außenministerium, das Transportministerium, zwei Wohnanlagen sowie die Hotels „Ukraina“ und „Leningradskaja“, letzteres mit 136 Metern die kleinste „Schwester“. Diese Leuchttürme der neuen Zeit nahmen sich in den Nachkriegsjahren mit ihrer Pracht geradezu unwirklich aus. Sie waren ein städtebauliches „Yes, we can“ in einem Land, das in Trümmern lag, das Hungers litt und in dem die meisten Menschen sich mit Gemeinschaftswohnungen bescheiden mussten.
Die Oberaufsicht über die Bauarbeiten wurde Lawrentij Berija zuteil, dem berüchtigten (und 1953 hingerichteten) Geheimdienst-Chef, der auch das Atombomben-Programm überwachte. Auf den Baustellen kamen Tausende Zwangsarbeiter aus dem Gulag zum Einsatz – und auch deutsche Kriegsgefangene. Die Stabilität des Baugrunds wurde verschiedentlich mit neuen ingenieurstechnischen Verfahren gewährleistet. Kosten spielten eine untergeordnete Rolle. So schlug allein der Bau der Lomonossow-Universität nach damaliger Kalkulation mit 2,6 Milliarden Sowjetrubel zu Buche, was heute ungefähr 650 Millionen US-Dollar entspricht. Das war mehr, als der Staat im Fünfjahrplan von 1946 bis 1950 für den Wiederaufbau Stalingrads bereitstellte, nämlich zwei Milliarden Rubel. In etwa so viel wurde auch für die Errichtung der übrigen sechs „Schwestern“ ausgegeben.
An exponierten Standorten rund um die Innenstadt gelegen, so wie die Ecktürme einer unsichtbaren Burgmauer, erinnern die neoklassizistischen Monumentalbauten selbst an Burgen. Stilistisch haben sie vieles gemeinsam, mit einem hohen, sich nach oben nach Art aztekischer Pyramiden in Stufen verjüngenden Mittelturm und mehr oder weniger verschachtelten Seitenflügeln. Der Grundriss variiert, wie auch das opulente Dekor an Zinnen, Figuren, Reliefs – die reinste Zitatensammlung mit Anleihen von Renaissance und Barock bis hin zu russischer Kirchenkunst. Die Architekten sollen versucht haben, den Geschmack Stalins zu erraten, dem eine Vorliebe für Gothik nachgesagt wurde. Recht machen konnten sie es ihm nicht in jedem Fall: Der Entwurf für das Außenministerium verzichtete auf eine Turmspitze, der Diktator bestand nachträglich darauf. Um die Statik nicht zu gefährden, wurde daraufhin eine spezielle Leichtbaukonstruktion auf das Dach gehievt, deren Träger fünf Etagen nach unten reichten, und farblich dem Mauerton angeglichen. Nach Stalins Tod sprachen die Architekten beim neuen Parteichef Nikita Chruschtschow vor, um diesen Willkürakt rückgängig zu machen. Doch der winkte ab: Die Spitze sei ein „Monument von Stalins Dummheit“, das solle sie auch bleiben.
Nicht zu verleugnen sind gewisse Ähnlichkeiten der Moskauer „Zuckerbäckerbauten“ mit amerikanischen Vorläufern wie dem New Yorker Municipal Building von 1914. Das war ideologisch problematisch und verlangte nach einer dialektischen Erklärung: Man hatte die kapitalistischen Kommerztempel zwar studiert, aber nur, um sie weiterzuentwickeln. In Manhattan diktierten die Grundstückspreise ihre Form, was dazu führe, dass viele Räume nicht über Tageslicht verfügten und Fenster auf finstere, schmale Hinterhöfe hinausgingen. Dem sozialistischen Menschen, der im Mittelpunkt allen Bauens in der Sowjetunion stehe, sei so etwas selbstverständlich nicht zuzumuten.
Als Stalin 1953 starb, kam das Bauen „fürs Auge“ genauso plötzlich aus der Mode, wie der „Vater und Freund der Architekten“ Anfang der 30er Jahre mit der sowjetischen Avantgarde gebrochen hatte. Chruschtschow sagte „Exzessen“ bei Projektierung und Bau den Kampf an, fortan regierten Schnörkellosigkeit und Funktionalität. Forciert wurde vor allem der Massenwohnungsbau, dem viele später ihre erste eigene Wohnung zu verdanken hatten. Doch bis heute stehen „Stalin-Häuser“ in Russland für Qualität, „Chruschtschowkas“ nur für Quantität.
Die am weitesten fortgeschrittenen „Zuckerbäckerbauten“ wurden unter Chruschtschow noch beendet. Doch Nummer acht, unmittelbar am Roten Platz geplant und mit 275 Meter Höhe besonders repräsentativ, fiel dem neuen Wind zum Opfer. Auf den Fundamenten des Verwaltungsgebäudes wurde in den 60er Jahren das riesige „Rossija“ errichtet, Europas größtes Hotel. Nicht besser erging es dem Prototypen des „Stalin-Empire“: dem Palast der Sowjets. Die Bauarbeiten an dem 420 Meter hohen Turm, gekrönt von einer 100 Meter hohen Lenin-Statue, waren vom Krieg unterbrochen worden. Als Chruschtschow hörte, welche Summe zur Fertigstellung benötigt würde, soll er gesagt haben: „Da baue ich lieber vier Chemiewerke.“ Anstelle des Palasts entstand ein beheiztes Freibad, das in den 90er Jahren der wiederaufgebauten Christ-Erlöser-Kathedrale weichen musste.
Die „sieben Schwestern“ zehren heute oft von ihrem früheren Glanz. In den zwei Wohnhäusern fallen schon mal die Lifte aus, auch die Bewohner – hier Intellektuelle, da Flieger und Kosmonauten – mussten sich daran gewöhnen, dass die Nachbarn auf einmal nicht mehr handverlesen sind. In der Lomonossow-Universität sei nur das Zentralgebäude mit seinen Marmortreppen, seiner Ausstattung und Aura nach wie vor „grandios“, erzählt der Jurastudent P. („Bitte ändern Sie meinen Namen, Kritik wird nicht gern gehört“). Man könne prima „die Mädels beeindrucken“, wenn man sage, man studiere an der MGU. Doch die Wohnheime in den Seitenflügeln seien „schlimm“, mit Zimmerchen von sieben Quadratmetern und einem ständigen feucht-fauligen Gestank: „Dort hat sich seit der Eröffnung 1953 nichts mehr getan.“
In der Moderne angekommen sind auf jeden Fall die beiden Hotels. Das 1954 eröffnete „Leningradskaja“ mit Blick auf gleich drei Moskauer Bahnhöfe wurde zwischen 2006 und 2009 von Grund auf saniert und steht heute als Fünf-Sterne-Haus unter Verwaltung der Hilton-Gruppe. Die Zimmerzahl sank von 330 auf 273. Das „Ukraina“, 1957 am Moskwa-Ufer eingeweiht, wird nach ebenfalls dreijähriger Renovierung seit 2010 als „Radisson Royal Hotel“ betrieben und hat auf seinen 34 Etagen rund 500 Zimmer zu bieten. Gerade wurde das russische Flaggschiff der Hotelgruppe Rezidor bei den „World Travel Awards“, einer der renommiertesten Auszeichnungen der Reisebranche, zum zweiten Mal in Folge zu „Russlands führendem Luxushotel“ gekürt.
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