Foto: Kommersant
Timoschenko-Urteil
Das Amtsgericht von Kiew hat entschieden, dass Julia Timoschenko alias „Lady Ju“ alias „Gasprinzessin“, die die Regierung der Ukraine im Jahre 2009 anführte, ihre Vollmachten beim Abschluss des Gasabkommens mit Moskau überschritten hat. Mit einfachen Worten: Sie hat überhöhte Preise akzeptiert. Das Fazit des Gerichtsurteils – Sieben Jahre Haft, ein dreijähriges Verbot der Ausübung staatlicher Ämter und eine Strafe in Höhe von 1,5 Milliarden Griwna (ungefähr 190 Millionen Dollar) zu Gunsten des Energieunternehmens Naftogas.
Unmittelbar nach der Urteilsverkündung nannte der Leiter des Außenministeriums der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, den Fall Timoschenko als extrem politisiert. „Wir können nicht hinnehmen, dass ein juristisch gültiger Vertrag, der auch weiterhin in Kraft ist und niemals juristisch angefochten wurde, Anlass für ein Gerichtsurteil, wie es heute gefällt worden ist, wird“, äußert sich der russische Chef-Diplomat. In der offiziellen Note des Außenministeriums der Russischen Föderation heißt es, dass die Anschuldigung gegenüber Julia Timoschenko einen „eindeutig antirussischen Unterton“ trägt. Laut Informationen der Zeitung Kommersant wurde diese harte Reaktion des Außenministeriums auf das Urteil vom russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew gefordert.
“Das gesamte System der Vertragsverhältnisse in Zweifel zu stellen, ist gefährlich und kontraproduktiv“, sagt der Premierminister Wladimir Putin. Er war es, der 2009 der Regierung vorstand und in dieser Funktion die Bedingungen von Gaslieferung und -transit mit Julia Timoschenko verhandelte und absprach.
Als einer der Hauptakteure der Verhandlungen ist Wladimir Putin verwundert: „Ich kann es wirklich nicht verstehen, wofür sie diese sieben Jahre bekommen hat“, erklärt er. „Timoschenko hat nichts unterzeichnet. Die Gasabkommen Russlands und der Ukraine wurden im Januar 2009 auf Ebene der Wirtschaftssubjekte Gasprom und Naftogas Ukraina unterzeichnet – dies geschah in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen Russlands und der Ukraine sowie internationalen Regeln.
Ähnliche Argumente brachte auch die Verteidigung Julia Timoschenkos vor, aber der Richter Rodion Kirejew erachtete diese als nicht überzeugend. Seiner Meinung nach war es erwiesen, dass das Regierungsoberhaupt im Alleingang die Entscheidung über die Gasabkommen mit Russland gefällt und damit der Ukraine Schaden zugefügt hat.
In Westeuropa und den USA ist im Wesentlich von der juristischen und humanitärer Seite des Problems die Rede. Die Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Maja Kocijancic teilte mit, dass „die EU von diesem Urteil sehr enttäuscht ist“ und nannte das Gericht „den internationalen Normen für Korrektheit, Transparenz und Unabhängigkeit eines Gerichtsprozesses nicht entsprechend“. Aus der Erklärung der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton geht hervor, dass die EU ihre Ukraine-Politik überdenken könne. Es besteht kein Zweifel, in welche Richtung das Urteil überdacht werden wird. Die Sprecherin des US-Außenministeriums Victoria Nuland nennt die Untersuchungen zum Fall Julia Timoschenko „politisch motiviert“ und die Entscheidung des Gerichts „Besorgnis erregend bezüglich des Verhältnisses der ukrainischen Regierung gegenüber Demokratie und Gesetz“.
Julia Timoschenko ist tatsächlich eine langjährige und unversöhnliche Gegnerin des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitschs. Deshalb ist es vollkommen logisch anzunehmen, dass dieser ihre strafrechtliche Verfolgung aus politischen Motiven initiiert und einen Schuldspruch des Gerichts mithilfe der Apparatschiks erwirkt hat. Aber offensichtlich hat er auch noch ein anderes, ein merkantiles Ziel – eine Preissenkung für russisches Gas und (oder) eine Erhöhung der Gebühr für den Transit nach Europa.
In Kiew bereitet man sich offenbar auf eine neue Phase des „Gaskrieges“ mit Moskau vor und das Urteil gegen Julia Timoschenko soll gleichzeitig zum casus belli und zur Hauptwaffe werden. “Der Deal ist ungesetzlich und das bedeutet, er muss annulliert werden“, denkt man wohl in Kiew. In Moskau wurde bereits mitgeteilt, dass man die Gasabkommen nicht revidieren wird. Darum wird dieser Konflikt wohl nicht friedlich ausgetragen werden.
Aber wie die Schlacht auch ausgehen wird (wenn es dazu kommen sollte), wird sie den Beteiligten und auch Dritten (vor allem den Ländern Europas) keine Vorteile bringen, wie auch schon die vorgehenden.
Noch vor dem ersten Gefecht hat die Ukraine ihre erste Niederlage zu verzeichnen. Nach der Verkündung des „inkorrekten und intransparenten“ Urteils wird deren Bewegung „in Richtung Europa“ sich eindeutig und langfristig verzögern.
Geschichte der Gaskriege
Durch die Ukraine werden jährlich ca. 100 Milliarden Kubikmeter russischen Gases geleitet.
Nach dem Zerfall der UdSSR im Jahre 1991 erhielt die Ukraine russisches Gas für den Eigenbedarf zu einem günstigen Tarif. Nichtsdestotrotz hatte sich bis 1993 ein gigantischer Schuldenberg aufgebaut. Auf Moskaus Warnung, den „Hahn zuzudrehen“ drohte Kiew, den Gas-Transit nach Europa zu unterbinden. Die Schulden stiegen an, doch aus politischen Gründen ergriff Russland keine ernsthaften Maßnahmen, mehr noch – der Ukraine wurde der günstige Preis (50 US-Dollar für tausend Kubikmeter) auch weiterhin zugestanden.
2004 fand in der Ukraine die „Orangefarbene Revolution“ statt und das Land richtete sich konsequent nach Westen aus. Mit den Vergünstigungen war es für die ehemalige Schwester-Republik nun vorbei. Die Ukraine forderte nun höhere Gebühren für den Transit, Russland dagegen für das von der Ukraine verbrauchte Gas. Bis 2005 verliefen die Verhandlungen ergebnislos und am 1. Januar 2006 setzte Gasprom die Lieferungen in die Ukraine aus, wobei der Export durch deren Territorium fortgeführt wurde und Kiew der unerlaubten Entnahme des Rohstoffes bezichtigt wurde. Nach drei Tagen wurde ein Kompromiss-Vertrag mit einer Laufzeit über fünf Jahre abgeschlossen. Doch bereits nach exakt drei Jahren wurden die Lieferungen in die Ukraine und durch deren Gebiet nach Europa für fast zwei Wochen eingestellt – wieder hatten sich Schulden angehäuft, wieder war der Streit über den Preis unversöhnlich.
Am 19. Januar 2009 wurden nach längeren Verhandlungen neue Verträge unterzeichnet, wobei erstmalig eine klare Formel für den Gaspreis formuliert wurde, und die Lieferungen konnten wieder aufgenommen werden. Für eben diese Vereinbarung wurde Julia Timoschenko verurteilt. Die Vereinbarung selbst bleibt jedoch bis auf Weiteres in Kraft.
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