Zivildienst kann schwerer als das Militär sein. Foto: PhotoXPress
Dieses Frühjahr wurden in die Armee ca. 218 Tsd. junge
Männer eingezogen. Im Herbst sollen es ungefähr genauso viel sein. Der Mehrzahl
ist dabei die Möglichkeit eines Zivildienstes bekannt, darunter auch
denen, für die der Dienst in der Armee aus religiösen oder moralischen Gründen
inakzeptabel ist. Das Gesetz, das dies ermöglicht, trat 2004 in Kraft. Aber
immer noch glauben viele, dass es in der Praxis unmöglich ist, vom Recht auf
den Zivildienst Gebrauch zu machen.
Die Dauer des Zivildienstes beträgte bis 2008 dreieinhalb Jahre, wobei der Grundsatz
der Exterritorialität (der
Dienst wird nicht am Wohnort durchgeführt) gilt, der Arbeitslohn erfolgt auf dem
Niveau des Existenzminimums. Das Arbeitsprofil ist in der Regel nicht sehr
angesehen und die Tätigkeit mit großer körperlicher Belastung verbunden.
2008 wurde der Wehrdienst auf 12 Monate, der Zivildienst auf 21
Monate verkürzt. Wenn der Zivi seinen Dienst in einer Organisation des
Militärbereiches ableistet, beträgt die Dauer sogar lediglich nur 18 Monate.
Unwirksames Prinzip
Jeder wehrpflichtige russischer Bürger kann den Zivildienst wählen. Dazu muss
er ein halbes Jahr vor der Musterung im Wehrersatzamt einen Antrag stellen, in
dem er seinen Entschluss begründet. Die Einberufungskommission fällt auf dieser
Grundlage eine Entscheidung.
Einmal pro Jahr veröffentlicht das Ministerium für
Gesundheitswesen und soziale Entwicklung der Russischen Föderation eine Liste der freien
Stellen und Betriebe, die für den Zivildienst geeignet sind. Die 2011 Liste enthält 633 Organisationen, die ca. 5.000
Arbeitsplätze in 125 Berufen zur Verfügung stellen. In den meisten Fällen
arbeiten die Zivis als Pfleger im Krankenhaus, auf dem Bau, als Maler,
Forstarbeiter, Bibliothekar oder Aushilfskraft. Die Regeln
des Arbeitsgesetzbuches erstrecken sich auch auf den Zivildienst: Gehalt, Urlaub und freie Wochenenden.
Im Gegensatz zu einem regulären Angestellten hat der
Zivi allerdings nicht das Recht, das Arbeitsverhältnis zu kündigen oder aber
eine Nebenverdienststelle anzunehmen. Diese Vorschrift ist jedoch eine rein
formale Angelegenheit: Man darf eine solche Stelle nicht annehmen, ein Verstoß
gegen diese Regelung wird indes laut Gesetz nicht geahndet. Zumal es im
Zeitalter des Internets ein Leichtes ist, in der Freizeit oder sogar während
der Dienstzeit etwas dazuzuverdienen.
Außerdem hat der Zivildienstleistende das Recht zu studieren — sowohl im Fern- als auch
im Direktstudium. Das ist ein wesentlicher Vorteil: Während der
einundzwanzigmonatigen Dienstzeit kann man nicht nur zu Hause übernachten,
sondern auch noch einen Bildungsabschluss erhalten.
"Geh zur Armee, wie jeder normale Kerl!"
Ungeachtet all dieser Vorteile, ist die Zahl der Zivildienstleistenden nur sehr gering. Laut Angaben der Föderalen Agentur für
Arbeit gab es
im Zeitraum von 2004 bis 2010 lediglich 5388 Anträge auf Zivildienst. In 4072 (80,5 %) Fällen wurde der
Antrag positiv entschieden. Nichtsdestotrotz wurden nur 2174 Antragsteller zum
Zivildienst geschickt. Im Rahmen der Frühjahrsmusterung 2011 wurden 294 Bürger
zum alternativen Dienst zugelassen.
"Der Zivildienst ist aus einem ganz banalem Grund so
unpopulär: Es mangelt an zuverlässigen Informationen. Stattdessen werden
Gerüchte verbreitet, die Vorurteile hervorbringen – der Zivildienst wäre halt
etwas Unklares und Dubioses“, erläutert der Autor des Buches „Alternative zur
Musterung“, der Experte des Instituts für Menschenrechte Lew Lewinson, einer der Verfasser des Gesetzes. „Viele
glauben immer noch, dass der Dienst vier Jahre dauert und die ganze Zeit
Nachttöpfe geleert werden müssten“.
Das Entscheidende ist – so erzählen Menschenrechtler
und Zivildienstleistende gleichermaßen –,
die Mitarbeiter des Wehrersatzamtes dazu zu bewegen, den Antrag
entgegenzunehmen. Laut Lew Lewinson sind keine Zeugen bei der Abgabe des
Antrages an die Vertreter des Wehrersatzamtes zugegen, und nicht selten handeln
diese inkorrekt: „Es gab Fälle, da wurde der Antrag einfach zerrissen und dem
Antragsteller mit Unannehmlichkeiten gedroht. Oder aber es wird schlicht
geblufft: Man erklärt, dass der Antrag nicht richtig formuliert ist“.
Um die jungen Seelen zu verunsichern, wird häufig mit
einer simplen Methode gearbeitet — es werden Klischees aufgedrückt. So hat ein
Korrespondent der Zeitschrift „Dengi“ als Cousin eines potenziellen
Zivis getarnt, ein Wehrersatzamt besucht und wollte Informationen zum Zivildienst ausgehändigt bekommen. Der
Mitarbeiter des Wehrersatzamtes teilte ihm mit, das Zivildienst nur etwas für Muttersöhnchen wäre. In den sechs Jahren,
die er dort arbeitet, hätte es erst einen Zivildienstleistenden gegeben.
Aus eigener Erfahrung
Trotz allem gibt es eine Vielzahl Geschichten, wie
ein Rekrut nach Überwindung aller Hindernisse die Möglichkeit bekommen hat,
sein gesetzlich verbrieftes Recht zu realisieren.
Im vergangenen August hat der 22-jährige Boris, der
Sohn von Lew Lewinson, seinen Zivildienst bei der Post beendet. „Nach meinem
Abschluss an der Fachschule als Filmvorführer habe ich zwei Jahre mit dem Wehrersatzamt gekämpft, habe
vier Musterungen passieren lassen, um die Genehmigung für den Zivildienst zu
bekommen“, erinnert er sich. „Ständig gingen irgendwelche Unterlagen verloren
und ich wurde angehalten, sie nochmals einzureichen. Aber letztendlich habe ich
die Zusage bekommen“.
Die einzige Schwierigkeit war, nach Boris' Worten, in
aller Herrgottsfrühe aufzustehen: Der Arbeitstag begann um 6:15 Uhr. „Na, und Samstags musste ich
auch arbeiten. Aber das war immer noch besser als die Armee. Ich hatte Urlaub,
bekam Krankengeld. Der Lohn betrug, wie bei anderen Postboten auch, 11.600
Rubel“, teilt er mit.
Alexander Kowaljow aus Puschkino (in der Nähe von St.
Petersburg) leistet seinen Zivildienst als Hausmeister in einem örtlichen
Kinderinternat ab. Nach Abschluss der Universität als Kfz-Ingenieur versuchte
er den Zivildienst „durchzuboxen“, um nicht in der Armee dienen zu müssen.
"Mit ist jeder Zwang zuwider – besonders der militärische", erklärt
Kowaljow.
Es sei angemerkt, dass Menschenrechtler schon vor
langem vorgeschlagen haben, den Rekruten die freie Auswahl des Einsatzortes aus
der Zivildienst-Liste im Austausch
gegen den Wegfall aller Aussetzungsfristen (außer, natürlich, im
Krankheitsfalle) zu gewähren. „Es ist gut möglich, dass der Zivildienst bei den
Jugendlichen etwas beliebter wird“, sagt Lew Lewinson. „Die Militärs können
zurzeit ganz gut mit der Situation leben. Ihre Aufgabe ist sicherzustellen,
dass die Leute sie nicht durchschauen und nicht alle zum Zivildienst wollen,
ansonsten können sie ihren Einberufungsplan nicht erfüllen“.
Dieser Beitrag erschien zuerst beim Wochenmagazin "Kommarsant-Dengi".
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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