Die europäische Integration bröckelt

Giorgos Papandreou. Foto: World Economic Forum

Giorgos Papandreou. Foto: World Economic Forum

Europa steht am Wendepunkt, an dem es sich entscheiden muss: Soll der eingeleitete Transformationsprozess unumkehrbar bleiben? Oder muss man ihn ändern?

 Die Entscheidung der griechischen Regierung, ein Referendum über die Annahme der Bedingungen der Europäischen Union durchzuführen, von denen diese ihre Hilfe  für Griechenland abhängig macht, zieht einen Schlussstrich unter die anderthalb Jahre andauernden Versuche der führenden EU-Staaten. Sie wollten das Problem lösen, aber das System nicht ändern. Anders ausgedrückt: Es sollen die Löcher im griechischen Staatsetat gestopft werden, ohne dass grundlegende Veränderungen in der Eurozone durchgeführt werden. Bemerkenswert dabei ist, dass dafür ausgerechnet die Demokratie ins Feld geführt wird.

Die Europäische Integration gestaltete sich nie als demokratischer Prozess. An ihrer Wiege, Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, standen die politischen Eliten, was leicht nachzuvollziehen ist. Wäre es je den Staatschefs Frankreichs und Deutschlands in den Kopf gekommen, 1951 ihre Völker zu fragen, ob diese eine Vereinigung strategisch wichtiger Industriezweige (wie beispielsweise Kohle und Stahl) wünschten, wäre die Antwort nach dem opferreichsten Krieg in der Geschichte der Menschheit wohl nach hinten losgegangen.

Es gelang den Eliten immer wieder, ihre Völker von kühnen Projekten zu überzeugen, ohne sie direkt zu befragen. Es reichte, ihnen eine Vision aufzuzeigen, dass die folgenden Schritte der europäischen Integration für sie irgendwie und ausschließlich von Vorteil sind. Bis zum Jahre 1990 gab es denn auch nur sporadische Volksentscheide. Die wenigen Beispiele betreffen den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder die Abstimmung in Großbritannien über den Verbleib in der EWG. In den letzten zwanzig Jahren wurden Plebiszite jedoch immer häufiger initiiert, und der geübte Mechanismus zeigte erste Verschleißerscheinungen. Negative Abstimmungsergebnisse in kleineren Staaten wie Dänemark oder Irland konnte man noch schlucken. Man legte diesen einfach nahe, noch einmal „über Europa“ nachzudenken und die Referenden so lange zu wiederholen, bis die von der EU gewünschte Zustimmung erreicht war. Doch als die neue EU-Verfassung von den Bürgern zweier wichtiger Gründungsmitglieder – nämlich Frankreich und den Niederlanden – abgelehnt wurde, war das Kind bereits in den Brunnen gefallen.

Die steigende Zahl der Volksentscheide ist mit zunehmender Verkomplizierung des Vereinigungsprozesses völlig gesetzmäßig – und paradox. Gesetzmäßig, weil die Entscheidungen immer tiefer in die nationale Souveränität der einzelnen Staaten eingreifen und einer zusätzlichen Legitimierung bedürfen. Paradox, weil die juristisch-institutionelle Konstruktion der Europäischen Union am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts dermaßen kompliziert ist, dass der Durchschnittseuropäer nicht mehr in der Lage ist, die Details zu verstehen – selbst die Europaparlamentarier nicht mehr. Hinzu kommt, das die Entwicklung zur weiteren europäischen Integration, besonders im letzten Jahrzehnt, einherging mit der Bürokratisierung, dem “Aussterben” herausragender Staatsmänner, die Verantwortung übernehmen und Massen begeistern können, sowie einem allgemeinen Verlust von Führungs- und Managementqualitäten des in Brüssel tätigen Personals sowie im Führungsstab der Nationalstaaten Europas.  Als deutlich wurde, wie fragil das politische Gebäude Europa eigentlich ist, wuchs das Bestreben, die Bürde der Verantwortung auf die Schultern der Bevölkerung abzuladen. Allen war dabei bewusst, wie riskant dieses Instrument bei Entscheidungen ist, die tiefgreifende Auswirkungen nicht nur für das Land selbst, sondern für die gesamte Union haben können. Hier sei an die Abstimmung über die Grundlagenverträge erinnert. Soweit zur Vorgeschichte.

Der aktuelle Schritt von Giorgos Papandreou traf sowohl seine Partei als auch seine Partner in den europäischen Ländern völlig überraschend. – Erst in der vergangenen Woche gelang es diesen, sich auf Bedingungen für eine Rettung Griechenlands vor dem Staatsbankrott zu einigen, was als historischer Durchbruch bezeichnet worden war.

Welche Gründe mag es für das Vorgehen des griechischen Ministerpräsidenten gegeben haben, das weder mit den anderen EU-Staaten, noch mit den Mitgliedern seines eigenen Kabinetts abgestimmt war? Zwei grundsätzliche  Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an:

Zum einen war Papandreou sich bestimmt darüber im Klaren, dass die Belastung des Landes an Grenzen stieß und alle weiteren Schritte der Regierung zur weiteren Verschlechterung der soziale Situation führen würde. Das Pulverfass könnte zur Explosion gelangen. Deshalb könnte er beschlossen haben, alles auf eine Karte zu setzen und sich einen Vertrauenskredit auf direktem Wege zu sichern. Dem Ministerpräsidenten ahnt, dass es unmöglich sein wird, die von der EU geforderten harten Schnitte immer wieder im Parlament durchzuboxen. So weiterzumachen wie bisher, hieße, irgendwann mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Deshalb könnte er sich eine Chance ausrechnen, beim ins Auge gefassten Volksentscheid doch noch zu siegen. Und das, obwohl laut den letzten Umfragen 60 Prozent der Bevölkerung mit den Plänen aus Brüssel unzufrieden sind. Die Chance auf einen positiven Ausgang des Referendums könnte dadurch noch vergrößert werden, wenn die Griechen gleichzeitig über ein Verbleiben in der Eurozone befragt würden. Das wäre clever, da laut Umfragen 70 Prozent der Befragten die europäische Währung behalten möchten. Wenn also die Bürger hierzu ihr “Ja” gäben, würden sie automatisch das Maßnahmenpaket unterstützen, weil ohne diese Maßnahmen ein Verbleiben in der Eurozone nicht möglich wäre. Offiziell hat die Regierung allerdings eine solche Doppelbefragung  bestritten. Man wolle der Bevölkerung nur vorgeschlagen, ihre Meinung zu den konkreten Auflagen zu äußern.

Ein Scheitern der Abstimmung über die Bedingungen lässt zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, einen neuen Deal mit der EU auszuhandeln. Aber eben nur theoretisch, denn der Geduldsfaden, den zum Beispiel der Deutschen mit Griechenland haben, ist äußerst dünn. Ein Misserfolg bei der Abstimmung über den Verbleib in der Eurozone könnte einen unvorhergesehen Mechanismus in Gang setzen  mit unvorhersehbaren Folgen sowohl für Griechenland, als auch für die gesamte Europäische Union. Kurz gesagt, Papandreou ginge ein sehr hohes Risiko ein, wenn er  hofft, im Falle eines positiven Ausgangs des Plebiszits eine Carte blanche für alle weiteren Maßnahmen zur Lösung der Schuldenkrise in die Hand zu bekommen.

Es gäbe jedoch noch eine andere Erklärung. Der Ministerpräsident könnte eine Niederlage bewusst in Kauf nehmen. Das hätte sogar eine gewisse Logik.

Die Staatsfinanzkrise in Griechenland und in Europa befindet sich in einer Sackgasse. Niemand ist jedoch bereit, sich dies einzugestehen. Denn den Konstruktions- und Verfahrensfehlern aus der Vergangenheit mit immer neuen Geldtransfers beizukommen, ist unmöglich. Der Staatsbankrott Griechenlands und der Ausstieg aus der Eurozone, die anfangs noch als Katastrophenszenario gescholten wurden, erscheinen nun nicht mehr als schlimmste Lösung. Ein Orkan auf den Märkten wäre nicht zu vermeiden, aber dieser würde für klares Wetter sorgen, was– nach dem ersten Schock – die Möglichkeit brächte, sich an die neue Situation anzupassen. Momentan jedoch springen die Aktienindizes auf und ab und versuchen, die Folgen der jeweiligen operativen Maßnahme vorauszuahnen. Sie sind aber nur ein Schrecken ohne Ende, anstatt ein Ende mit Schrecken herbeizuführen.

Für eine radikale Lösung mag sich (noch) niemand entscheiden. Aber das Hinauszögern der Entscheidung führt nicht zum Licht am Ende des Tunnels.

Die Idee mit dem Referendum gestattet es  Papandreou für den Falle seiner Scheiterns, ratlos in die Runde zu blicken und zu sagen: Wir haben alles getan, was wir konnten, Griechenland wollte sich nicht zu diesen Bedingungen retten lassen. Was dann folgen müsste, wäre eine Restrukturierung der Währung außerhalb der Eurozone, zumal es dort noch weitere Patienten gibt, vor allem Italien, dessen Zustand bedrohlich ist.

Diese Variante böte auch einen Vorteil für den Hauptgeldgeber Deutschland. Hier steigt der Frust über die Unterstützung der nachlässigen Nachbarn immer mehr. Schon die bloße Ankündigung des Volksentscheides hat so manchem europäischen Staatslenker die Zunge gelöst. Sie beginnen unverblümt, Forderungen an Athen zu richten. Das Land solle bekennen, ob es in der Eurozone verbleiben oder schnellstmöglich wieder verlassen will. Eine Entscheidung der griechischen Wähler - so oder so - würde ihnen freie Hand lassen.

Die Europäische Union steht vor dem Rubikon. Die europäische Integration ab Mitte des letzten Jahrhunderts  stand unter der Losung eines großen, hehren Ziels – nie wieder Krieg in der Alten Welt! Diese Ziel wurde erreicht – der Antagonismus zwischen den westeuropäischen Großmächten, der über Jahrhunderte immer wieder neue Kriege entfachte, wurde im Rahmen der Eurointegration beseitigt.

Doch heute sprechen führende europäische Politiker offen aus, was man vor anderthalb Jahren nicht einmal denken durfte: Das Überleben des Euro ist keine Frage des wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern eine Frage von Krieg und Frieden. In diesem Sinne haben sich sowohl Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, als auch David Cameron geäußert. In der britischen Presse werden schon allenthalben mögliche Szenarien des Zerfalls der EU veröffentlicht, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen.

Die Integration begann, wie anfangs erwähnt, als Projekt der Eliten. Es hätte mehr als Symbolcharakter, wenn die einfachen Bürger nun einen Schlussstrich  unter dieses höchst erfolgreiche, aber mittlerweile in die Jahre gekommene Modell ziehen würden. Wenn sie sich mit ihrem Willen gegen die sich festgefahrenen und etablierten Politiker durchsetzen würden.

Und wieder wäre Zeit für politische Eliten, etwas Neues vorzuschlagen. Wenn sie dazu nur in der Lage wären.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.

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