Russland zieht in die WTO ein. Foto: AFP
Russland, der größte Wirtschaftsbereich außerhalb der WTO, erbringt eine Wirtschaftsleistung von $1,9 Billionen oder etwa 2,8 Prozent der Weltwirtschaft.
Nach der Vereinbarung vom 2. November ist die nächste Etappe auf dem Weg zur Mitgliedschaft ein bereits angesetztes Treffen der Arbeitsgruppe zum Beitritt Russlands, unter Vorsitz von Stefan Johannesson, am 10. und 11. November. Die Gruppe beabsichtigt, ihre Arbeit abzuschließen und ihre Empfehlungen für eine vom 15. bis 17. Dezember vorgesehene Ministerkonferenz auszusprechen, welche die endgültige Entscheidung über den russischen Beitritt treffen soll. Danach wird Russland ein Beitrittsprotokoll unterzeichnen, in dem es das genehmigte „Beitrittspaket“ akzeptiert. Das Parlament wird das Protokoll ratifizieren müssen, gewöhnlich innerhalb von drei Monaten nach der Unterzeichnung. Dreißig Tage nachdem die sich bewerbende Regierung dem WTO-Sekretariat mitteilt, dass sie ihre Ratifizierungsverfahren beendet hat, wird sie zum Vollmitglied der WTO.
Doch wie wird sich der WTO-Beitritt auf Sieben der großten russischen Wirtschaftssektoren auswirken?
1) Landwirtschaft
Russland wird Bauern nach dem Beitritt weiterhin subventionieren, doch die Beträge werden sich bis 2017 allmählich verringern, wie Präsident Dmitri Medwedew im Juli erklärte. Außerdem werde sich die Regierung das Recht vorbehalten, weiterhin Einfuhrzölle auf einige Agrarprodukte zu erheben, um den Binnenmarkt zu unterstützen.
2) Öl und Gas
Der WTO-Beitritt dürfte nur einen begrenzten Einfluss auf die Branche haben, die 40 Prozent der Staatseinnahmen liefert: den Export von Rohstoffen. Öl und Gas sind von Importzöllen durch andere Länder befreit. Allerdings meint Ildar Davletshin, ein Öl- und Gas-Analyst bei Renaissance Capital, dass die WTO-Mitgliedschaft zu geringfügigen Veränderungen des Sektors führen könne. Möglicherweise werde die Europäische Union, die sich bemüht, den Würgegriff von Gazprom auf den Angebotsmarkt abzuschwächen, neuen Druck ausüben, um die Erdgaspreise zu reduzieren. Daneben könne die Öl- und Gas-Dienstleistungsbranche, die Ausrüstung und Geräte liefert, stärkerer Konkurrenz ausgesetzt sein. Davletshin betonte, dass jeglicher Wandel „peripher” sein und sich „graduell statt mit einem Schlag” vollziehen werde.
3) Konsumgüter
Nach dem Beitritt Russlands dürften importierte Konsumgüter zugänglicher für die Käufer werden, meint Chefökonomin Natalia Orlowa von der Alfa Bank. Die meisten ausländischen Waren in Russland würden gegenwärtig wegen hoher Einfuhrzölle mit durchschnittlich 30 bis 40 Prozent Aufschlag gegenüber dem Originalpreis angeboten. Durch die WTO-Mitgliedschaft würden die Preise von Konsumgütern in Zukunft marktgerechter sein, da neue Waren auf dem Markt erscheinen und Importe sich verbilligen würden, sagte Orlowa. Ein unvermittelter „Preiszusammenbruch” sei jedoch nicht wahrscheinlich.
4) Stahl
Russlands Beitritt könnte zur Folge haben, dass inländische Stahlhersteller ihre Exporte in die Europäische Union erhöhen, da man die jetzigen Beschränkungen für den Export von russischem Walzstahl nach Europa vermutlich aufheben werde, verlautet von Dmitri Smolin, einem Analysten bei UralSib Capital. Inländische Stahlerzeuger hätten sich damit begnügen müssen, jährlich eine spezifische Menge Walzstahl nach Europa zu exportieren, seit die Europäische Union im Jahr 2002 Quoten zur Regulierung russischer Lieferungen einführte.
„Theoretisch könnte der WTO-Beitritt die Beseitigung dieser Quoten nach sich ziehen”, kommentierte Smolin.
Die Unternehmen dürften dieses Jahr insgesamt 3,3 Millionen Tonnen Walzstahl exportieren, verglichen mit 3,4 Millionen Tonnen im Jahr 2010. Allerdings könne es nach Russlands Aufnahme in die Organisation mehr als drei Jahre dauern, bis die Restriktionen aufgehoben würden, denn die Beseitigung der Quoten werde nicht automatisch erfolgen.
Ein weiteres Problem bestehe darin, dass sich die Nachfrage nach Walzstahl in Europa seit der Krise von 2008 nicht völlig erholt habe und auch in den kommenden beiden Jahren schwach bleiben werde.
5) Flugzeuge und Züge
Luftfahrt und Eisenbahnen sind eine bunte Mischung. „Es gibt keine eindeutige Antwort, da für jedes Unternehmen sowohl mit positiven als auch mit negativen Aspekten zu rechnen ist“, sagte Wladimir Dorogow, ein Analyst bei der Alfa Bank. In der Luftfahrt wird Aeroflot einen großen Teil der Gebühren verlieren, welche es europäischen Fluglinien, deren Maschinen Sibirien überqueren, derzeit auferlegt. Das Unternehmen enthüllt nicht, wie viel es durch diese Praxis verdient, doch die Europäische Kommission hat bekanntgegeben, dass sich die Gebühren für Fluggesellschaften mit asiatischen Zielen im Jahr 2008 auf $420 Millionen belaufen hätten.
Zumindest ein Teil der Verluste wird durch den billigeren Zugang zu neuen Flugzeugen und zur Pilotenrekrutierung, der auch anderen Fluggesellschaften zustatten kommt, ausgeglichen werden. Doch die Folgen werden nicht unverzüglich zu spüren sein: der russische Chefunterhändler für den WTO-Beitritt Medwedkow äußerte vor einem Monat, dass eine Reform der Gebühren vor 2013 kaum in Frage komme. Für den Flugzeughersteller Boeing, der seit über fünfzehn Jahren sowohl in Moskau als auch in Washington in vorderer Front für den Beitritt lobbyiert, dürfte die Nachricht einen Sieg repräsentieren. „Boeing unterstützt den Beitritt vollauf, genau wie es früher andere Länder im Interesse des Freihandels unterstützt hat”, bestätigte ein Sprecher von Boeing Russia in einem per E-Mail verschickten Statement.
Einfuhrzölle für Großraumflugzeuge werden in den vier Jahren nach dem Beitritt von 20 auf 7,5 Prozent gesenkt werden. Dies geht aus Daten hervor, die David Tarr, ein Konsultant und ehemaliger Chefökonom der Weltbank, zusammengestellt hat. Russland habe sich mit erheblichen Zollsenkungen für Bau-, Agrar- und wissenschaftliche Geräte sowie für medizinische Apparate einverstanden erklärt, schrieb er in „Russian WTO Accession: Achievements, Impacts, Challenges" (Der russische WTO-Beitritt: Leistungen, Auswirkungen, Herausforderungen). Die Zölle in diesen Sektoren würden durchschnittlich 5 Prozent betragen.
Der Beitritt werde wenig oder keinen Einfluss auf Russian Railways (Russische Eisenbahnen AG) haben, denn der Konzern sei „physisch und institutionell” von Europa isoliert, doch internationale Dokumentationsstandards könnten den Güterverkehr zwischen Asien und Europa erleichtern, erläuterte Dorogow.
6)Pharmazeutika
Aus- und inländische Arzneimittelhersteller sind begeistert über Russlands Beitritt, der den Absatz von innovativen Medikamenten auf dem Binnenmarkt fördern und dessen Attraktivität für Investoren erhöhen soll. Nachdem sich Russland der Organisation angeschlossen hat, wird sich das Unterlagenschutzsystem, das die Ergebnisse präklinischer und klinischer Studien schützt, auch lokal auswirken. Dies wird zur Folge haben, dass aus- und inländische Arzneimittelhersteller sechs Jahre Patentschutz für innovative Medikamente erhalten, die lokal verkauft werden sollen. Diese Meinung vertritt Wladimir Schipkow, Geschäftsführer der Association of International Pharmaceutical Manufacturers.
Der Mangel an Datenschutz in der aktuellen Gesetzgebung hindert ausländische Arzneimittelhersteller daran, neue Medikamente in Russland registrieren zu lassen, denn die Erzeuger von Generika können die Resultate der ursprünglichen Studien nutzen und dadurch Verluste für die Hersteller von Originalpräparaten verursachen. „Das Unterlagenschutzsystem in Russland funktionsfähig werden zu lassen ist ein langwieriger Traum von ausländischen Arzneimittelherstellern”, sagte Schipkow.
7) Versicherung
Russland wird seine Verpflichtungen gegenüber multinationalen Versicherungsträgern beträchtlich verstärken. Es wird nach dem WTO-Beitritt einen hundertprozentigen Auslandsbesitz an Nicht-Lebensversicherungsgesellschaften zulassen. Das Verbot von ausländischen Beteiligungen an Pflichtversicherungen sowie die Einschränkungen der Zahl von Lizenzen, die man ausländischen Versicherungsfirmen gewährt, werden innerhalb von fünf Jahren nach dem Beitritt auslaufen. Russland hatte ausländische Investitionen in diesem Sektor auf ungefähr 15 Prozent der Gesamtanlagen begrenzt, doch im Rahmen seiner Beitrittsverpflichtungen erklärte es sich bereit, das Limit auf 50 Prozent anzuheben.
Die ständigen Mitarbeiter Kristina Narischnaja, Irina Filatowa, Roland Oliphant und Howard Amos leisteten Beiträge zu diesem Bericht.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei The Moscow Times.
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