Russland kann der WTO beitreten, sollte aber nicht

Philippinische Aktivisten tragen bunte Masken während einer Demonstration gegen die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik der WTO. Foto: AP/Mike Alquinto

Philippinische Aktivisten tragen bunte Masken während einer Demonstration gegen die wirtschaftliche Liberalisierungspolitik der WTO. Foto: AP/Mike Alquinto

Besser spät als nie. So könnte die Reaktion von Investoren und Geschäftsleuten in Ost und West auf die Ankündigung lauten, dass Russland seinen 18 Jahre dauernden Marsch zur Mitgliedschaft bei der Welthandelsorganisation beendet hat. Aus dem Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und Handel ist zu hören, Russlands Beitritt werde Mitte Dezember vom Allgemeinen Rat der WTO bestätigt.

Russlands Beitritt wäre mit Sicherheit ein Fest für den internationalen Unternehmerclub. Die Mitgliedschaft eines der größten Länder der Welt scheint ein Silberstreif am dunklen Horizont zu sein, der momentan die Stimmung in der globalen Ökonomie im Allgemeinen und in der WTO im Besonderen verdüstert.

Was Russland selbst betrifft, so wird die WTO-Mitgliedschaft seine ökonomische Leistung in naher Zukunft kaum beeinflussen. Der lange Beitrittsmarathon war jedoch keineswegs umsonst. In vieler Hinsicht sind die Bedingungen, die die russischen Verhandler ihren Handelspartnern abgerungen haben, recht günstig für Wirtschaft und Handel des Landes. Sie sichern den gleichberechtigten Zugang russischer Waren zu ausländischen Märkten, was in der internationalen Sprache des Handels dem Status gemäß dem "Meistbegünstigungsprinzip" entspricht. Russland könnte sich auch des WTO-Streitschlichtungsverfahrens (Dispute Settlement Understanding) bedienen. Die Mitgliedschaft würde für ausländische Investitionen in Russland ein günstigeres Klima schaffen und bessere Chancen für russische Investitionen in WTO-Ländern bieten.

Doch so gut die Beitrittsbedingen zur WTO auch sein mögen ‒ es wäre klug zu sagen "Ende gut, alles gut". Obwohl Russland jetzt der WTO beitreten kann, sollte es das nicht tun, denn seine eigene Ökonomie ist schwach und nicht konkurrenzfähig. Darüber hinaus würde eine WTO-Mitgliedschaft diesen Status quo auf absehbare Zukunft zementieren, es sei denn, die Regierung würde radikale Maßnahmen ergreifen und ihre soziökonomische Politik ändern, die Russland ‒ selbst gemessen an den Schwellenländern ‒ zu einem Versager gemacht hat. Dieses Paradox versteht man, wenn man die grundlegenden Fakten des russischen Wirtschaftslebens genauer beleuchtet.

Erstens geht es mit Russlands produktbezogenem Export ständig bergab. In einem Bericht der Weltbank heißt es: "Öl und Gas machten im Jahr 2000 weniger als die Hälfte des gesamten Exportvolumens aus. Innerhalb von 10 Jahren ist diese Zahl auf zwei Drittel des Gesamtexports angestiegen, wobei weitere 15 Prozent der Exporte auf andere Rohstoffe entfallen und nur 9 Prozent aus High-Tech-Produktion stammen, hauptsächlich aus der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie." Seit 20 Jahren redet der Kreml über die Notwendigkeit, die Wirtschaft zu modernisieren und auf neue Produktionsbereiche einzustellen, und noch immer stützt sich die russische Ökonomie auf die Rohstoffindustrie. Die Einnahmen aus der Ölindustrie decken die Hälfte des nationalen Budgets, was das Land von den Launen der weltweiten Energiepreise vollkommen abhängig macht. Wenn man jetzt der WTO beitritt, bedeutet das, in der internationalen Arbeitsteilung als wichtiger Rohstofflieferant eine zweitrangige Rolle zu akzeptieren.

Zweitens argumentierte Ministerpräsident Putin im letzten Sommer, Russland brauche die WTO-Mitgliedschaft, um die jährlichen Verluste von etwa 2.5 Milliarden Dollar bei den Exporteinnahmen zu vermeiden. Hauptverlierer dieser Benachteiligung sind russische Großunternehmer der Stahl- und Nichteisenmetallproduktion, die sich gegenüber dem Kreml stark für den WTO-Beitritt eingesetzt haben. Während die oligopolen Unternehmen bereits darauf trainiert wurden, dem internationalen Wettbewerb standzuhalten, ist der Großteil der russischen Fertigungs-, Landwirtschafts- und Dienstleistungsunternehmen, von den Kleinen der Branchen gar nicht zu reden, selbst auf dem inländischen Markt nicht wettbewerbsfähig. Ohne massive staatliche Subventionen, die laut WTO-Regelwerk verboten sind, würden sie sogar nach dem Ende der Übergangsphase zur vollen WTO-Mitgliedschaft  als Verlierer dastehen.

Drittens: Obwohl der Kreml die Korruption als Staatsfeind Nummer 1 angeprangert hat, gibt es keinerlei sichtbare Anzeichen dafür, dass sie tatsächlich zurückgegangen ist. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass die Summen an Bestechungs- und Schmiergeldern die gesamten staatlichen Steuereinnahmen übersteigen. Schmiergelder, die bei feindlichen Übernahmen von Unternehmen und bei Vergleichen vor Gericht fließen, werden in vielen Millionen Dollar bemessen. In den letzten beiden Jahren wurden Tausende wegen Korruption angeklagt, doch nur Hunderte wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das unglaublich hohe Maß an Korruption beschert russischen Unternehmen sozusagen eine Doppelbesteuerung, die sie zunächst wettbewerbsunfähig macht. Die unsichtbare Hand des Marktes wird im Land durch die häufig sichtbare Hand der Korruption ersetzt.

Und schließlich werden russische Unternehmer zu einer leichten Beute der staatlichen Bürokraten und Gesetzeshüter, die ihren Anteil am Vermögen oder Prozente vom Gewinn im Tausch gegen Schutz verlangen. Diese Praxis hindert selbst große Unternehmen daran, ihre Waren landesweit zu vermarkten, weil die Bürokraten in den Regionen örtliche Unternehmen gegen Konkurrenz von außen schützen. Das hat zur Folge, dass viele inländische Waren von hoher Qualität nicht überall im Land angeboten werden können. Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der Marktreformen gibt es nur eine Handvoll landesweit bekannter Markennamen von Produkten "Made in Russia".

Kein Wunder, dass das raue Geschäftsklima zur Flucht von inländischem Kapital ins Ausland führt. Die russische Zentralbank schätzt, dass die Kapitalabwanderung dieses Jahr 70 Milliarden Dollar erreichen wird. Das kommt zu etwa einer Billion Dollar, die seit Mitte der 90er Jahre aus dem Land geschafft wurde. Was die russische Ökonomie jetzt dringend benötigt, ist der Status des Meistbegünstigten im Inland. Das ist wesentlich wichtiger und akuter als der Status nach dem Meistbegünstigungsprinzip, den die Mitgliedschaft in der WTO bietet.

Die Haltung von Russlands politischen Eliten zum Business lässt sich kaum besser beschreiben als mit der geistreichen Bemerkung des amerikanischen Präsidenten Calvin Coolidge zu Amerika: "Das Business Amerikas ist das Business." Könnte der Kreml ehrlich sein, müsste er erklären: "Das Business Russlands ist es, das Business zu schröpfen." Bei einer solchen Ausgangslage wäre es kontraproduktiv, Russland mit seinem noch in den Kinderschuhen steckenden Kapitalismus in die WTO zu drängen. Es würde zu wirtschaftlichen Turbulenzen und Auflösungstendenzen führen, vergleichbar mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Der Moskauer Wirtschaftsjournalist Felix Gorjunow berichtet seit 30 Jahren über das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT, die WTO sowie internationale ökonomische Fragen.


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