Lenas geschwollene, raue Hände zeugen von Tatkraft. Sie hat es eilig. Während das Wasser über dem Feuer in der Mitte ihres Zeltes kocht, bereitet Lena Sarteto, eine Nomadin aus dem Volk der Nenzen, Ureinwohner von Westsibirien, ein Festmahl für die Gäste und ihre fünfköpfige Familie. In wenigen Stunden wird ihre Gruppe aus zehn Familien, die noch immer den offiziellen Namen Brigade Nr. 5 aus der Sowjetzeit trägt, weiter nach Norden ziehen.
Sie schnippelt dunkelrotes, in Streifen geschnittenes und getrocknetes Rentierfleisch, schuppt einen riesigen silberfarbenen Fisch und legt trockenes Brot auf Holzplatten. Der Fußboden ist das Gras unter ihren Füßen; Fischgräten und Schuppen liegen ums Feuer herum. Das alles bleibt liegen, wenn sie weiterziehen.
Denn
es ist früher Polarsommer, und sie nutzen die nie untergehende Sonne,
um mit ihren 3000 Rentieren an die Küste der Karasee zu ziehen. Dort
bleiben sie nur für kurze Zeit, dann fliehen sie
gemeinsam mit ihren
Rentieren vor dem bitteren Frost und kehren zurück zum Gras und Moos der
wärmeren Tundra. Es ist ein jahrhundertealter Zyklus. Doch in jüngster
Zeit wird es immer schwieriger, ihm zu folgen.
Die Gazprom-Badlands
Denn auf der Jamal-Halbinsel ist auch Gazprom zu Hause, der russische
Energiegigant, der Westeuropa mit Erdgas beliefert. Und mit Gazprom
kamen Straßen, Eisenbahntrassen und Pipelines, die die Tundra nachhaltig
veränderten. Die Nenzen wurden erstmals mit Asphalt, verrostetem
Metall, Stromleitungen und Bohrtürmen konfrontiert.
„Der Fisch
schmeckt nicht mehr; wir fühlen uns krank, wenn wir Wasser aus den Seen
trinken; unsere Rentiere verfangen sich in Drahtschlingen. Sie stolpern
über Rohre, brechen sich die Beine und verenden kläglich“, erzählt Lena.
Immer wieder sagt sie: „Wir sind die letzte Generation, die ein
Nomadenleben führt. Unsere Kinder werden nicht mehr in der weiten Tundra
leben. Sie gehen in die Städte.“
Auf der Jamal-Halbinsel liegt das
Gasfeld Bawanenkowo, ein riesiges Areal, aus dem ab 2012 fast fünf
Billionen Kubikmeter Erdgas gepumpt werden sollen. Eine 500 Kilometer
lange Eisenbahntrasse ist schon gebaut, und immer neue Bohrtürme und
Straßen kommen dazu.
Eine Minute aus dem Leben der Nenzen.
Viele der 13 000 Nomaden haben bereits die
Jamal-Halbinsel verlassen aus Angst, man werde sie zur Sesshaftigkeit
zwingen. Ihre ganze Identität verbinden sie mit dem Herumziehen in der
Tundra, da hilft auch keine Unterstützung der Regierung für ein
„zivilisiertes“ Leben an einem Ort.
Niemand weiß genau, wie viele
Jahrhunderte die Nenzen im Rhythmus des Polarjahres mit langen Wintern
und kurzen Sommern ihre Rentiere vor der beißenden Kälte hergetrieben
haben. Die Männer üben sich im Lassowerfen, während Frauen die Myas, wie
die Nenzen ihre Zelte nennen, einrichten. Von den Rentieren stammt
alles: das Essen, die Zeltbespannung und das Material für die Kleidung.
Nicht
erst seit gestern bedrohen Bohrtürme und breite Trassen durch die
Tundra den Lebensraum der Nenzen. Schon die Sowjets hatten die
Bestrebung, aus den Nomaden eine Art Kollektivfarmer zu machen. Sie
unterteilten verschiedene Stämme in „Kolchosbrigaden“ und verlangten von
ihnen Abgaben in Form von Rentierfleisch.
Tausende Ureinwohner
zogen
damals in sibirische Städte, doch einige Nenzen kämpften für den
Erhalt ihrer Traditionen. Und es ist kein Wunder, wenn diese heute die
Versuche der Regierung, sie zur Umsiedlung in Städte zu bewegen, als
neuerlichen Angriff betrachten. „Wir sind ein kleines Volk“, sagt
Jezingi Hatjako, mit 61 schon Stammesältester. „Wir haben weder
Abgeordnete, die sich für uns einsetzen, noch Oligarchen, die uns Geld
für einen Anwalt geben würden.“
Unversöhnliche Gegensätze
Als Lena Sartetos Brigade Nr. 5 nach Norden zieht, muss sie zwei
asphaltierte Autobahnen überqueren, eine echte Herausforderung für die
300 Rentiere pro Familie und die Lenker der 100 Holzschlitten. Gazprom
hatte die Teerschicht mit Dämmmaterial überzogen – eine Geste des guten
Willens, die den Nomaden das Überqueren erleichtern sollte. Denn
traditionell ziehen die Nenzen stets auf festgelegten Routen und
Korridoren über die Halbinsel. Diesmal ist es anders. Die ursprüngliche
Route von Sarteto würde mitten durch ein Gasfeld führen.
Ein
entnervter Gazprom-Sprecher versteht die Nenzen nicht: Man strebe eine
gemeinsame Nutzung des Landes mit den Stämmen an und versuche, sich wie
ein freundlicher Nachbar zu verhalten.
Allerdings werde es ihm kaum
gedankt. „Wir stellen ihnen Transportmittel zur Verfügung, bezahlen
ihnen Löhne für Dinge, die sie seit jeher umsonst gemacht haben, wir
bauen Brücken über die Rohre sowie Schulen und Kindergärten für ihre
Kinder – doch die Nenzen beklagen sich immer nur“, ist es Andrej
Tepljakow leid, verantwortlicher Sprecher für das Jamal-Projekt.
In
der Tat ist die Liste mit Vorschlägen lang, die Gazprom für eine
Verbesserung der Lebenssituation der Jamal-Nenzen erstellt hat. Jeden
Sommer fliegt das Unternehmen Hubschrauber zu den Lagern der Nomaden, um
von dort über 2000 Kinder nach Yar-Sale, Hauptstadt der Tundravölker,
in Internate zu bringen. Es zahlt den Stammesangehörigen sogar Löhne
fürs Viehhüten oder für Pflegetätigkeiten der Frauen. Lena und ihr
Ehemann bekommen rund 1800 Euro pro Monat, was in diesem Teil Russlands
ein stolzer Lohn ist.
Doch Lena Sarteto und ihre Familie würden
lieber ohne das Geld auskommen, wenn sie dafür wieder eine unberührte
Tundra hätten. Als könnte sie die alte Zeit beschwören, kramt sie nach
dem Familienfetisch, der in einem Stück Pelz steckt, und bringt die
Statuette ins Freie. Der hölzerne Gott soll das Haus nicht mit Fremden
teilen – ein Versprechen, das immer schwerer einzuhalten ist. Sarteto
wiederholt ihr aussichtsloses Lamento: „Lass Gazprom bald gehen und
Jamal wieder nur für uns allein da sein.“
Anna Nemzowa ist Moskau-Korrespondentin des amerikanischen Newsweek.
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