Ein warmer Tag im September des Jahres 2011, als Putin sich als neuer Präsidentschaftskandidat präsentierte, hat vieles verändert: mehr noch als den persönlichen Lebensweg Medwedjews die Wahrnehmung dessen, was sie bedeutet haben, diese drei Jahre, in denen „unsere Generation“ das größte Land der Welt lenkte und leitete. Bald werden wieder „die Alten“ das Ruder übernehmen, und es lohnt ein Blick darauf, ob sich etwas von dem, was ich seinerzeit mutmaßte, als zutreffend erwiesen hat.
Mein Text begann so: „Ungeachtet ihrer
Jugend erlebte die Generation Medwedjews genug Umbrüche und Kataklysmen.
Deshalb entspricht Stabilität für sie dem tief empfundenen Wunsch, von
neuerlichen Erschütterungen verschont zu bleiben.“
Ich konnte damals
nicht ahnen, wie weit die Liebe zu dieser Stabilität gehen würde.
Unabhängig davon, ob das gesamte Szenario der Machtrochade von Anfang an
geplant war: Die Abneigung des Präsidenten, über vorgegebene Grenzen
hinauszugehen, ist frappierend.
Sucht man die Ursachen außerhalb von
Medwedjews Persönlichkeit, ließe sich so etwas wie ein
Perestroika-Syndrom bemühen. Die Erinnerung daran, wie kurz der Weg von
hehren Wünschen und edlen Absichten hin zu Kontrollverlust und
Katastrophe sein kann, ist noch frisch. Seinerzeit schien mir, meine
Altersgenossen, die in der Mehrzahl leidenschaftlich an Gorbatschow
geglaubt, sich dann aber tief enttäuscht von ihm abgewandt hatten, wären
immun gegen den spezifischen Stil jener Zeit. Doch wird Medwedjew heute
gerade mit Michail Gorbatschow verglichen. Wegen der Vielzahl
wohlgefügter, ideologisch korrekter Reden, aus denen nichts folgte.
Wegen des liberalen Flairs, dessen stromlinienförmige Glätte zu nichts
verpflichtete. Wegen seines Wohlwollens gegenüber dem Westen.
Weiter
schrieb ich: „Man hat uns jede Art von Naivität ausgetrieben, wir sind
misstrauisch geworden. Denn auf den Bildschirmen der Fernsehgeräte, den
Tribünen der Kundgebungen war zu viel Schönes, Überzeugendes zu sehen
und zu hören, von dem sich dann zu wenig als wahr und aufrichtig erwies.
Unsere Allergie gegen Pathos ist eine Reaktion auf sowjetische wie auf
postsowjetische Lügen jeder Art, seien sie nun pro- oder
antikommunistisch.“ In der Tat, von der Naivität haben wir längst
endgültig Abschied genommen und Aufrichtigkeit ist Luxus geworden.
Allergisch gegen Pathos war Medwedjew allerdings nicht, obwohl das
Pathetische angesichts seines gemäßigten Temperaments stets ein wenig
aufgesetzt wirkte.
In diesem Pathos erschöpfte sich seine Vision
denn auch schon. „Modernisierung“ beschloss eine Serie von Begriffen,
die in der späten UdSSR und im jungen Russland diskreditiert worden
waren: von „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ und „Perestroika“ bis
hin zu „Demokratie“ und „Markt“.
Kann man Medwedjews Position als
pragmatisch bezeichnen? Der September 2011 lässt die Logik seines
Handelns verschwommen erscheinen, wahrscheinlich war es einfach keine
Logik der Macht. Auf die Nutzung seiner vornehmlichsten Möglichkeit –
nämlich ein echter Präsident zu werden – hat Medwedjew bewusst
verzichtet. Obwohl es schien, als habe er eine reelle Chance.
Für
unsere Generation ist die vierjährige Präsidentschaft Medwedjews zu
einem Negativsymbol geworden, das nur allzu deutlich versinnbildlicht:
Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung sind begrenzt.
Das Lenken
und Leiten der Vierzigjährigen war ein seltsames
Intermezzo, ein
gescheitertes Experiment, nach dem die „alten Genossen“ aus der
Babyboomer-
Generation wieder ihre rechtmäßigen Plätze einnehmen. Sie
sind noch im Vollbesitz der Kräfte und denken gar nicht daran, die Zügel
aus der Hand zu geben.
Und doch werden sie irgendwann abgelöst,
nicht von den heute Vierzigjährigen, sondern von noch Jüngeren. Den
dreißigjährigen Trägern jener Ambitionen, die das neue Russland prägte.
Oder bereits von der „Generation der Freiheit“, die die UdSSR gar nicht
mehr erlebt hat und die Welt vermittels Gadgets und Devices wahrnimmt.
Wobei man den Eindruck gewinnt, Medwedjew mit seinem Faible für moderne
Kommunikationsmittel sei gerade ihr Präsident gewesen, und sie würden
ihm ernsthaft nachtrauern.
Fatal nur, dass die postsowjetische
Epoche vorüber ist. Zusammen mit der kollabierten sowjetischen
Infrastruktur, die ihre Reserven erschöpft hatte, verlieren auch alle
dieser Zeit entlehnten ideologisch-politischen Konzepte oder gar Imitate
ihren Sinn.
Die neue Führungsgeneration, die stärker vorwärts gerichtet und in
Medwedjew verkörpert zu sein schien, konnte oder wollte aus bestimmten
Gründen den Sprung nach vorn nicht wagen. Sie zog es vor, weiter unter
der Patronage derjenigen zu stehen, die zwangsläufig nach hinten
blicken. Selbst wenn die Rezepte der Vergangenheit unpraktikabel und die
Instinkte stumpf geworden sind.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs.
Dieser Beitrag erschien zuerst in Ogonjok
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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