Das Dach, das bist du

St. Petersburg ist eine der schönsten Städte der Welt. Wir begeben uns auf die Suche nach einem anderen St. Petersburg, nach einer parallelen Welt - ein Spaziergang mit einem Höhenfreak über die Dächer von St. Petersburg.

Foto: raskalov-vit

 St. Petersburg ist eine flache Stadt ohne Anhöhen, und will man hoch hinaus, muss man die höchsten Stellen der Stadt ansteuern. Dort oben gehört einem die Stadt für ein paar Stunden, man hält sie behaglich in seiner Hand und kann sie in Ruhe erkunden.

 

Mein Reiseführer Dmitrij ist 22 Jahre alt. Er gehört der neuen Generation von Höhenfreaks an: „Das Dach, das bist du. Es ist der Ort, an dem du deine eigene Welt entstehen lassen kannst. Hier kannst du du selbst sein, fernab vom Alltag da unten.“ In seinem Leben „da unten“ arbeitet er bei einer Bank. Während unseres dreistündigen Ausflugs stiegen wir auf vier Dächer im historischen Herz der Stadt. Wir erlebten ein Areal von weniger als zwei Quadratkilometern, und doch schien es, als hätten wir eine andere Stadt, ein anderes Land oder einen anderen Planeten besucht. Jedes Dach ist anders und bietet einen einzigartigen Ausblick und eine einmalige Atmosphäre. 

 

Von einem Gebäude am Ufer der Fontanka, gegenüber dem Zirkus, blickt man auf eine Kreuzung, bei der sich die schlängelnden Lichter der Autoscheinwerfer und der Flussschiffe vermischen und gleichsam einen Tanz miteinander vollführen. Durch den entstehenden hypnotischen Effekt gerät man in einen meditativen Zustand.

In der Umgebung der Mochowaja-Straße sieht es komplett anders aus. Die vielen Schornsteine und Mansardenfenster bilden den Rahmen für eine Sinnestäuschung: am Horizont sind die beleuchteten Kuppeln der großen Kathedralen (Kasaner Kathedrale, Isaak-Kathedrale, Bluterlöser-Kirche und die Spitze der Admiralität) in einer Reihe ausgerichtet und erscheinen wie goldene, an den Gipfeln der Dächer angebrachte Kugeln. Geht man zur anderen Seite des Gebäudes, blickt man in ein Gewirr von Gassen und ein Labyrinth aus dunklen Innenhöfen. Es ist eine Parallelwelt, die einen scharfen Kontrast zu den hellen Lichtern und dem endlos fließenden Verkehr auf dem Litejnyj Prospekt bildet. Danach stiegen wir auf das Dach einer verlassenen Bibliothek, einem roten Backsteingebäude mit Fenstern ohne Glas - wie ein Mund ohne Zähne.

Nur ein paar Minuten von hier entfernt erreichten wir das ultimative Dach, auf einem schicken Gebäude zwischen der Eremitage und dem Marmorpalast. Es war die Krönung! Das Panorama der erhabenen Newa breitete sich vor unseren Augen aus. Auf der linken Seite die Spitze der Wasilewskij-Insel mit ihren Rostra-Säulen, auf der rechten Seite die Dreifaltigkeitsbrücke, die wie eine Kette aus märchenhaften Lichtern erstrahlte, und gegenüber die Peter-und-Paul-Festung, ein Symbol der Stadt, das seine Spitze wie einen Speer gen Himmel richtet.

In der Höhe können auch Menschen, die nicht zu Höhenangst neigen, Schwindelgefühle bekommen, allerdings handelt es sich dabei wohl eher um einen Schwindel von Freiheit und Schönheit. Ein Gefühl der Allmacht, gemischt mit Adrenalin, erzeugt einen Eindruck von Risiko und Verbotenem. Da die Häuser im Stadtzentrum nie mehr als sechs Stockwerke haben, bieten sie einen direkten Zugang zum siebten Himmel.

Dafür muss man allerdings hart arbeiten, denn es ist klar, dass einige der hochgelegenen Orte nicht so einfach zu erreichen sind. Man muss sie sich regelrecht erkämpfen. Um der Dunkelheit der staubigen Dachkammern zu entfliehen, muss man sich durch ein enges Fester quetschen und sich bis zum Rand eines rutschigen Blechdachs zwischen alten Schornsteinen hindurch vorkämpfen. Ganz zu schweigen von dem Wachpersonal, den Überwachungskameras und den aufmerksamen Nachbarn. Doch das ist es wert!

Dmitrij erzählt, dass seine Lieblingsplätze „in den Wolken“ im historischen Herz der Stadt liegen: der Newskij Prospekt, die Fontanka, der Gribojedow-Kanal, der Heumarkt, die Wasilewskij-Insel und vor allem der Stadtbezirk Petrogradskij, der grenzenlose Möglichkeiten bietet und in dem man stundenlang herumschlendern kann, ohne einen Fuß auf den Boden zu setzen. Wer Aufregung sucht, findet diese auf den großartigen Touren durch die Regionen am Stadtrand (Oserki, Awtowo, Graschdanskij Prospekt). “Vom Dach eines 25-stöckigen Gebäudes bietet sich bei klarem Himmel eine ungehinderte, nie dagewesene Aussicht auf die Stadt.“

Sergej, ein Roof-Runner mit ungefähr vierzehn Jahren Erfahrung, erklärt uns: „Während man in den 80ern und 90ern junge, alternative Typen auf den Dächern antraf, die der um sie herum herrschenden Unterdrückung entfliehen wollten, entwickelte sich die Bewegung seitdem weiter und neue Richtungen entstanden.“ So gibt es auf der einen Seite die abgehärteten Roof-Runner, die echten Enthusiasten: Sie streben nach Erfolg und Tempo, nach unerreichbaren Dächern unter strenger Überwachung oder nach außergewöhnlichen Orten. Auf der anderen Seite gibt es die nachdenklichen Typen, die die Stadt lieben: Die Neo-Romantiker, die dort oben eine Oase der Ruhe und Einsamkeit finden, um der Hektik und dem Lärm der Großstadt zu entfliehen. Sie begeben sich an die hochgelegenen Orte, um dort Fotos zu machen, zu lesen, nachzudenken, in der Sonne zu liegen (während der wenigen Stunden, in denen in dieser Stadt mit seinen durchschnittlich 72 Sonnentagen im Jahr die Sonne scheint) und diese einmalige Freiheit der Gefühle voll auskosten zu können.

Die Anzahl der Websites und Reisebüros, die zu einer breitgefächerten Preispalette Spaziergänge über die Dächer anbieten und dort sogar Feste (Hochzeiten, Geburtstage etc.) oder Fotoshootings organisieren, ist beträchtlich gestiegen. Zudem wird der Trend im Sommer durch die schicken Bars, Clubs und Restaurants unterstützt, die ihren Gästen auf den Dachterrassen eine überwältigende Aussicht auf die Denkmäler der Stadt bieten - ein echter Magnet für eine anspruchsvolle Klientel.

Allerdings muss erwähnt werden, dass ein solches Abenteuer nur möglich ist, wenn bestimmte Sicherheitsvorkehrungen beachtet werden: Das Tragen von bequemen Schuhen mit rutschfesten Sohlen (keine Absätze!) ist unumgänglich, die Hände müssen freigehalten werden (Rucksack ist vorgeschrieben), eine Taschenlampe sollte mitgenommen und Stromleitungen nicht angefasst werden!

Eines ist sicher: Anschließend ist man ziemlich durcheinander - allerdings niemals enttäuscht!

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