Russlands Beitritt zur WTO: Kein Grund zum Jubeln?

Dmitrij Butrin. Foto: Kommersant.ru

Dmitrij Butrin. Foto: Kommersant.ru

Die seit Ende Oktober erscheinenden Kommentare zum so gut wie abgeschlossenen Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (WTO) sind praktisch zu einem eigenständigen Genre im Wirtschaftsjournalismus geworden. Das ist vor allem dem Überraschungseffekt der Geschehnisse zu verdanken und der damit verbundenen Konfusion.

Die Regierung hatte bereits Anfangs Oktober die entscheidenden Schritte unternommen, um einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen in Genf zu ermöglichen. Die Öffentlichkeit wurde aber vorerst nicht darüber informiert, und ohne die Kenntnis über diese entscheidende Information sahen die Verhandlungen in Genf wenig erfolgversprechend aus. Der zweite Faktor war, dass Russland die Mehrheit der offenen Fragen bereits zwischen 2003 und 2007 geklärt hatte. Die einzelnen Abkommen decken ein riesiges Spektrum an Themen ab, und nach vier Jahren erinnert sich kaum jemand mehr an die Details - außer den Unterhändlern selbst. Zudem wurden die erreichten Vereinbarungen oft ohne Umwege in die russische Gesetzgebung implementiert, weshalb die Zugeständnisse, die Russland im Laufe der Jahre machen musste, teilweise seit Jahren angewendet und nicht mehr als solche wahrgenommen werden.

Dies hat dazu geführt, dass in den jüngsten Kommentaren die Meinungen über die konkreten Vor- und Nachteile eines WTO-Beitritts weit auseinander gehen. Wer der russischen Industrie den Tod durch die ausländische Konkurrenz verheißen wollte, konnte dies schon seit 2004 tun, doch offensichtlich ist diese noch immer am Leben. Wer über das zukünftige Wachstum des BIP sprechen möchte, muss verstehen, dass im Wachstum zwischen 2004 und 2010 bereits ein großer Teil der von Russland in Hinsicht auf den WTO-Beitritt freiwillig übernommenen Rechte und Verpflichtungen eingeschlossen sind. Doch im Grunde sind sich alle Kommentatoren einig: Russland gewinnt durch die Mitgliedschaft im Klub des internationalen Handels nur bedingt. Um die Vorteile der WTO-Mitgliedschaft auszukosten, muss man aus eigener Kraft sich eröffnende, neue Märkte auffinden, freie Kapazitäten schaffen, um diese Märkte mit Waren zu beliefern, und dabei auch besser als die Konkurrenz sein. Aus diesem Grunde sind alle Prognosen sehr vorsichtig formuliert.

Die Mitteileung des Wirtschaftsministeriums von der Sitzung der Arbeitsgruppe für Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO hingegen ist ein ganz eigenes Opus. Erstens wird darin nur über die Verpflichtungen Russlands in der Organisation gesprochen: Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, als komme die alleinige Tatsache des erfolgreichen Abschlusses der Beitrittsverhandlungen einem verhältnismäßig erfolgreichen Ende eines Strafverfahrens gegen Russland gleich. Man hat das Gefühl, als ob die Advokaten Russlands in einem ermüdenden Kampf gegen die Staatsanwaltschaft und die Richter der WTO mit viel Mühe die Verhängung einer bedingten Strafe erreichen konnten. Zweitens werden die Verpflichtungen so verkauft, als wollte man uns sagen: „Keine Sorge, wir kommen mit einem blauen Auge davon“. So soll „der geltende Tarif für Tee und Kaffee nicht gesenkt werden“, „die Tarife bezüglich Kraftfahrzeuge sollen auf das Vorkrisenniveau von 2009 zurückkehren“, und „für die Chemieindustrie wird der WTO-Beitritt in den meisten Fällen folgenlos bleiben“. Wem genau gilt es hier beschwichtigend zu sagen, dass Russland durch den WTO-Beitritt fast nichts verliert?

Mitteilungen aus dem Finanzsektor, zum Beispiel von der Bank HSBC und der russischen Investmentgesellschaft Renaissance Capital, geben zu verstehen, dass die WTO durchaus einige Vorteile bietet. Merkwürdigerweise spricht jedoch ausgerechnet das Wirtschaftsministerium, deren Unterhändler die Beitrittsverhandlungen führten, kaum über diese Pluspunkte. So gesehen ist es wenig verwunderlich, wenn im Volk das Jubeln über den Durchbruch – nach über 18 Jahren Verhandlungen! – ausbleibt.

Dmitrij Butrin ist Leiter der Rubrik Wirtschaft und Politik in der Tageszeitung Kommersant.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung Kommersant.

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