Generation Aufbau

Freizeit in Tomsk: Vater, 28, Mutter, 22, Kind, 3, auf dem Spielplatz ihres Wohnviertels. Foto: Oksana Juschko

Freizeit in Tomsk: Vater, 28, Mutter, 22, Kind, 3, auf dem Spielplatz ihres Wohnviertels. Foto: Oksana Juschko

Zu Sowjetzeiten vertrauten Russen auf den Staat. Heute kämpfen sie selbst für den Arbeitsplatz, eine kleine Wohnung am Fluss und den Kinderkrippenplatz: mit Erfolg.

Die Frolows

Ein gewöhnlicher Innenhof in der Stadt Tomsk: rundum fünfstöckige Plattenbauten, in der Ferne erahnt man zwischen Pappeln die in die Jahre gekommenen Holzhäuser der Altstadt. Noch im Herbst stehen überall Reklameschilder, die den Spatenstich für das Innovationsforum Innovus im Mai ankündigen.

Wladimir

 
Die Frolows sind eine typische Familie der aufstrebenden neuen Mittelschicht. In der Nähe eines modernen Plattenbaus begrüßt uns Wladimir, er ist 28, seine Frau Nastja 22. Sie kamen aus nahe gelegenen Ortschaften ins sibirische Tomsk. Das ist eine Stadt fast 3000 Kilometer östlich von Moskau mit einer halben Million Einwohner. Er besuchte das Polytechnikum, sie das Pädagogische Institut. Nach dem Studium fing Wladimir beim Tomsker Werk für Elektromechanik an. Dort lernte er seine Frau Nastja kennen, als sie ihn um Hilfe bei einer technischen Zeichnung bat. Sie heirateten, und bald wurde ihr Sohn Sergej geboren.


Wladimirs Anfangsgehalt lag bei 10 000 Rubel – etwa 250 Euro, selbst für Tomsk nicht viel. Doch er blieb
e -  nicht allein der Liebe wegen. Sein Unternehmen hatte dem aussichtsreichen jungen Ingenieur einen zinslosen Firmenkredit für 25 Jahre angeboten, zum Kauf einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Neubau am Fluss. Der einzige Haken: Wird er entlassen oder kündigt aus freien Stücken, ist nicht nur der Kredit sofort fällig, sondern er muss mit Zinseszins die bisher erlassenen Zinsen nachzahlen. Wladimir ist also für mindestens 25 Jahre an das Unternehmen gebunden, die Zukunft der Familie Frolow ist ziemlich vorbestimmt.


Die Konditionen findet Wladimir jedoch fair: „Vom Standpunkt des Arbeitgebers ist die Sache logisch, sonst würden viele versuchen, an billige Kredite über die Firma zu kommen.“ Die feste Bindung an sein Unternehmen sieht er locker: „Mag sein, dass wir von ihm abhängig sind. Aber dafür haben wir jetzt eine eigene Wohnung.“ 


Wladimir hat Glück gehabt. Denn die Mehrheit der jungen russischen Familien kann sich keinen Kredit leisten, weder von einer Bank noch vom Arbeitgeber. Ihnen fehlen die Sicherheiten, oder ihr Arbeitgeber ist nicht bereit, ihnen durch die Übernahme der Zinsen zu helfen. Ein Grund, warum in Russland nur 15 Prozent aller Immobilien mithilfe von Darlehen erworben werden, in Europa hingegen fast jede Immobilie auf diese Weise finanziert wird. Wohnraum ist Mangelware, die Mieten stehen oft in keinem Verhältnis zur Qualität der Wohnung. Mieterschutz gibt es kaum, und so ist der Mieter häufig der Willkür des Vermieters ausgesetzt. 


Lebe und arbeite


Das Tomsker Elektromechanikwerk produziert zum Beispiel Luftreinigungsturbinen für die U-Bahn, riesige Ventilatoren zum Absaugen von Rauch. Heute stehen sechs dieser Turbinen in Moskauer U-Bahnhöfen, wie viele nachbestellt werden, ist nicht gewiss. Die Zukunft der Frolows hängt aber auf Gedeih und Verderb vom Unternehmenserfolg ab. 


Nach Abzug der Kreditrate von 8,25 Prozent bleiben der Familie rund 630 Euro. Wladimir ist Alleinverdiener, da Nastja ein Zweitstudium begonnen hat und sich um die Erziehung von Sergej kümmert. Für Essen gehen monatlich rund 150 Euro drauf. „Den Rest müssen wir zwischen Kind, Kleidung, Kultur und Sonstigem aufteilen“, sagt Wladimir.


Seine Zukunft sieht er wenig zuversichtlich: „Theoretisch können die Aufträge im Werk jederzeit zurückgehen oder ausfallen. Wenn die da oben im Betrieb irgendeinen Unsinn fabrizieren, hat das sofort Auswirkungen auf unsere Arbeitsbedingungen und unseren Lohn.“ Damit er ein Gefühl der Sicherheit habe, sagt Wladimir, brauche er mindestens 1000 Euro im Monat. Aber für höhere Löhne müsste die Produktivität steigen, und dafür müsste wiederum die Ausstattung in Wladimirs Werk modernisiert werden. „Gäbe es in unserem Staat eine Umorientierung bezüglich der Industrie, die den einheimischen Herstellern 
zugutekäme, wäre die Hälfte gewonnen. Ich bin manchmal beruflich in Deutschland. Dort versucht man grundsätzlich, möglichst mit deutschen Produkten zu arbeiten. Das bräuchten wir in Russland auch.“

Reale Kategorien

Der pflichtbewusste Bürger


Wladimirs Patriotismus lässt sich, anders als der staatliche, in absolut realen Kategorien beschreiben. Er möchte weiterhin in Tomsk leben und für das Wohl der Familie und des Betriebs arbeiten. Ein schönes Leben? Das sind für ihn ein Haus vor der Stadt und drei Kinder. Bislang erfüllt er seine Pflichten als Bürger: Er ist für sein Land eine gute Fachkraft geworden, er wird in der Fabrik geschätzt, und er hat sich für die Herstellung russischer, innovativer Produkte eingesetzt. 


Das einzige Problem dieses gewöhnlichen russischen Bürgers besteht darin, dass ihm ein Traum fehlt. Genauer gesagt, ist sein Traum in Form einer Wohnung Wirklichkeit geworden. In dem Rahmen, in dem er jetzt lebt, lässt sich aber kaum fantasieren oder träumen, sonst würde er wohl seinen Alltag unerträglich finden. Und er muss noch 22 Jahre durchhalten, bis er das Darlehen abbezahlt hat.


Nastja

 Nastja fällt ihrem Mann nicht ins Wort. Sie sitzt ruhig daneben, bis es an ihr ist, vom Leben zu erzählen. Sie hat ähnliche Träume, doch würden ihr zwei Kinder reichen. Ihre Ziele sind pragmatischer: Sie will den Sohn in einem Kindergarten unterbringen und dann arbeiten gehen. Dahinter steckt ein weiteres ernstes Problem für junge Familien: In vielen Regionen warten Zehntausende Kinder auf einen Kindergartenplatz, in ganz Russland sind es nach Angaben des russischen Gesundheitsministeriums anderthalb Millionen. Die Regierung fährt zwar Kampagnen für mehr Kinder, doch es fehlt an Infrastruktur. Viele Kindergartengebäude aus Sowjetzeiten sind als Büroräume vermietet, und übermäßig strenge Vorschriften bei der Registrierung von Kindereinrichtungen behindern das Entstehen von privaten Kinderkrippen. Oder die Aufnahmegebühren werden unerschwinglich, weil die Schmiergelder an die für die 
Registrierung verantwortlichen Beamten zu hoch sind.


Wenn es denn endlich klappt mit dem Kindergartenplatz, will Nastja im sozialen Bereich arbeiten, verdienen würde sie gerne 20 000, mindestens aber 15 000 Rubel (400 Euro). Wladimir und Nastja gehören zur neuen Generation, die es gewohnt ist, ihre Probleme selbstständig anzugehen, ohne dabei auf soziale Fürsorge zu vertrauen. Sie beschweren sich über den Staat und versuchen, alles auf eigene Faust zu lösen. Und selbstverständlich sind sie vom Gesundheitssystem genervt. Worin sie sich mit der absoluten Mehrheit der Russen einig sind.


Gutes Leben, das ist für Nastja eine Reise nach Sewastopol, dort hat sie Verwandte. Und dann nach Ägypten, wegen der Pyramiden. Und nach Thailand, in die Wärme am Meer. Und auch nach Deutschland, weil Wladimir darüber viel Gutes berichtet hat. Das wär’s dann auch schon. Kurzum: Was diese Familie für ein schönes Leben braucht, wäre endlich mal aus den eigenen vier Wänden herauszukommen. Da die Eltern niemanden haben, der auf das Kind aufpassen könnte, und sich einen 
Babysitter nicht leisten können, gehen sie praktisch nie aus. 


„Die Frikadellen sind angebrannt.“ Nastja kommt mit schuldbewusster Miene aus der Küche. „Macht nix“, beruhigt sie Wladimir, „dann essen wir sie halt gut durch.“ Wie lang ist es her, dass die beiden in einem Restaurant waren? „Neun Monate“, antworten die jungen Eltern unisono. 


Das freundliche Unternehmen


Wladimir pendelt als Angestellter der mittleren Führungsebene stets zwischen dem Bürobereich und der Werkhalle hin und her. Einen Teil seiner Arbeitszeit widmet er der Auftragsabwicklung, manchmal geht er auf Dienstreisen zu Kunden und Zulieferern, manchmal steht er auch selbst an der Maschine. Ein Teil der Maschinen ist durch deutsche Anlagen ersetzt worden, etwa die Werkhalle, in der Präzisionsinstrumente für Ölpipelines hergestellt werden.


Alle alten Anlagen durch neue zu ersetzen, ist nicht möglich. Das Unternehmen wirft nicht genug ab. Die größte Gefahr für sein Überleben ist das Fehlen langfristiger Aufträge. Die Fabrik hält sich also mit kurzfristigen Arbeiten über Wasser, verdient vor allem an Luftreinigern und automatischen Kontrollsystemen für Ölpipelines. Das Werk wäre laut Wladimir aus dem Gröbsten heraus, wenn es zwei bis drei langfristige Verträge mit Ölgesellschaften oder der Moskauer Metro abschließen könnte. Dann ließe es sich ganz gut leben. Nicht schlechter als die Westeuropäer und insbesondere die Deutschen. Die fallen Wladimir durch ihre Freundlichkeit auf -
 weil sie optimistisch in die Zukunft blicken. „Was der deutsche Arbeiter alles so selbstverständlich nutzen kann: Betriebsrente, Krankenversicherung, Haus, Auto, Muckibude, Schwimmbad. Unsere Zukunft dagegen ist eher unsicher.“


Was passiert, wenn Wladimir im Werk einen Unfall hat? Wird dann das Darlehen fällig? Plötzlich strahlt auch Wladimir aus irgendeinem Grund, ist fröhlicher als ein Deutscher. „Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Wenn etwas passiert, wird eine Versicherung mein Darlehen bezahlen.“ Das kostet zwar auch ein paar Rubel, aber beim Hinausgehen bleibt er noch einmal stehen und sagt: „Um ehrlich zu sein, habe ich doch ein Riesenglück. Millionen Russen beneiden mich wahrscheinlich darum.“

Wirtschaft Konkret

Produktivität und Gehalt

 

Wladimirs kleines Gehalt resultiert aus der geringen Arbeitsproduktivität, die in den USA viermal so hoch ist wie in Russland. Das Hauptproblem sind die mancherorts schrottreifen Produktionsanlagen, die zum Teil noch aus den 30er-Jahren stammen. Doch allmählich beginnen die Reformen zu greifen. Alte Maschinen werden durch moderne Anlagen ersetzt, innovative Arbeitsorganisation und Abläufe erhöhen kontinuierlich die Produktivität. In den letzten zehn Jahren ist sie fast um ein Drittel gestiegen. 


Trotzdem sind noch immer drei Viertel der Maschinen älter als 15 Jahre. Ihre Erneuerung lässt sich nur mit Hilfe umfangreicher Investitionen umsetzen. Auch hier greift der Staat stabilisierend ein: Tomsker Unternehmen erhalten aus dem Gebietshaushalt Subventionen zur Deckung der Zinsen von Krediten, die sie zum Ankauf moderner Anlagen aufgenommen haben. Die Unternehmen in Russland sind hochgradig importabhängig. Nach Schätzung der Gesellschaft Stankoimport beträgt der Marktanteil einheimischer Anlagen lediglich ein Prozent.

Mobilität

 

Eine neue Arbeit in einer anderen Stadt könnte Menschen wie Wladimir Frolow mehr Lebensqualität und deutlich mehr Geld bescheren. Mit seinen Fähigkeiten hätte er in der sich dynamisch entwicklenden Region um Leningrad gute Chancen. Doch durch sein Darlehen ist er fest an Tomsk gebunden. 

Solche und auch administrative Schranken verhindern den Austausch zwischen den Regionen und eine effiziente Verteilung der Arbeitskräfte. In Russland ziehen jährlich nur sechs von tausend in eine neue Stadt. In den USA sind es viermal so viele. Mangelnde Mobilität treibt viele russische Familien in die Armutsfalle. Dann können sie sich einen Umzug gar nicht mehr leisten.

Steuern, Kredite, Inflation

 

Viele russische Unternehmen haben mit denselben Problemen zu kämpfen: einem Teufelskreis aus hohen Steuern und Zinsen, Protektionismus und Korruption. Wegen der hohen Zinssätze ist es auch in Wladimirs Indus-triebetrieb nicht möglich, auf einen Schlag alle Anlagen zu modernisieren. Fehlt es jedoch an neuen Maschinen, ist die Produktion weniger effektiv. Man ist zu Dumpingpreisen gezwungen, nachhaltige Großkunden brechen weg, und die Chancen auf eine längere Kreditlinie zu vorteilhaften Zinssätzen fallen. Der Kreis schließt sich. 


Obendrein heizen Lohnerhöhungen, steigende Energiekosten, verschärfte Umweltbestimmungen und nicht zuletzt höhere Staatsausgaben die Inflation an. Jede Erhöhung von Beamtengehältern und -pensionen lässt das Haushaltsbudget von Wladimirs Familie etwas schrumpfen. Gäbe es auf dem Binnenmarkt mehr Konkurrenz, würde sich das positiv auf die Preisentwicklung auswirken und die Inflation drücken. Doch: Viele Unternehmen schwächeln wegen ihrer veralteten Produktionsanlagen ...

Dieser Beitrag erschien in Russki Reportjor.

Info 

Die russische Mittelschicht - noch weit entfernt von der deutschen und noch weiter von der sowjetischen

 
Auch nach zehn Jahren Wirtschaftsboom ist die russische Mittelschicht nur schwer zu fassen. Fragt man die Russen selbst, zählen sich zwischen 35 und 42 Prozent dazu. Als wichtigstes Kriterium geben sie ein Einkommen über dem Landesdurchschnitt an. Das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung präsentierte dagegen jüngst eine Untersuchung, wonach 
20 bis 25 Prozent der Russen der 
Mittelschicht angehören: Sie verdienen mindestens 750 Euro und besitzen Auto und Wohnung, müssen von ihrem Geld aber oft noch andere Familienmitglieder versorgen. Sie arbeiten in der Öl- und Gasindustrie, dem Finanzsektor und bei der Bahn. Ärzte, Lehrer oder Professoren gehören 
laut Studie nicht dazu: Sie verdienen zu wenig.


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