Quo vadis, Russland?

Quelle: Drew Tkalenko

Quelle: Drew Tkalenko

Welchen Weg wird Russland nach den Parlamentswahlen einschlagen? Politikwissenschaftler und Fachleute aus 14 Ländern trafen sich unlängst im Rahmen einer Veranstaltung des Valdai International Clubs in Kaluga, um dieser Frage nachzugehen und Russlands zukünftige Ausrichtung grundsätzlich zu diskutieren.

Zunächst wurden fünf Szenarien diskutiert – angefangen von einem harten und autoritären Regime bis hin zu einer demokratischen Revolution, begleitet von einer vollständigen Ablösung der herrschenden Elite. Zwischen diesen Extremen gibt es Variationen. Diese umfassen liberal-demokratische Reformen, eine autoritäre Modernisierung sowie ein Trägheitsmodell, das auf der Bewahrung des Status quo und Stagnation beruht.

Die Teilnehmer kamen zu dem Schluss, dass keines der vorgeschlagenen Modelle einschlägig ist. Der autoritäre Modernisierungsweg, obschon etwas realistischer als die übrigen Szenarien, ist dennoch nicht geeignet, die Dynamik der Faktoren im heutigen Russland zu berücksichtigen. Stattdessen kristallisierte sich ein weiteres, sechstes Szenario heraus, das die allgemeine Entwicklungsrichtung der Gesellschaft am effektivsten widerspiegelt. Dabei geht es im Wesentlichen um die sukzessive Ballung von Kräften für die zukünftigen Veränderungen, die gleichzeitig mit der Umstrukturierung der Gesellschaft vonstatten gehen werden. Sergej Karaganow, Leiter des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, der bei den Sitzungen des Valdai Clubs den Vorsitz führt, beschrieb diesen Weg als Modell der „kontinuierlichen Entwicklung“.

Einige der erbittertsten Nonkonformisten unter den Teilnehmern im Forum versuchten, ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass eine Revolution unvermeidlich sei. Die Mehrheit der Teilnehmer, ob aus Russland oder dem Ausland, lehnte diese Behauptung ab. Dies soll jedoch mitnichten heißen, dass der linke oder rechte politische Flügel keine Versuche unternehmen wird, das Ruder in seine Richtung zu reißen.

Weshalb aber erachten die meisten der in Kaluga versammelten Politologen das „Kontinuitäts”-Modell als das realistischste? Weil dieser Weg Russland innere Stabilität und berechenbare Auslandsbeziehungen garantiert. Alle anderen während der Diskussion vorgeschlagenen Szenarien waren höchst hypothetisch: Sie könnten nur im Falle unvorhergesehener globaler Ereignisse eintreten, die auch geeignet wären, die ganze Weltgeschichte zu verändern.

Hoffnungen des Westens vergebens?

Die Hoffnungen des Westens auf eine schnelle Modernisierung nach den Wahlen werden sich, so die Experten, wohl kaum erfüllen. Sie sind der Auffassung, dass Russland in eine Phase der Stagnation verfallen wird. Eine Stagnation freilich, die dennoch positiv konnotiert ist und während der das Land - dank seiner historisch geprägten Mentalität der „belagerten Festung“ - kein Bedürfnis nach einer Mobilisierung entwickeln wird. Das zweitwahrscheinlichste Szenario, die „autoritäre Modernisierung” entspricht diesem in vielen Punkten und könnte dessen treibende Kraft werden. 

Beide Modelle sehen eine schnelle Wirtschaftsentwicklung mit politischer Stagnation auf hohem Niveau vor. Im Rahmen des „Kontinuitäts“-Modells wird die politische Elite sich bemühen, das gegenwärtige Entwicklungstempo aufrechtzuerhalten und versuchen, die  Unzufriedenheit in der Bevölkerung durch soziale Programme zu entschärfen. Die „autoritäre Modernisierung“ geht dagegen von durch die herrschende Elite behutsam kontrollierten wirtschaftlichen und politischen Reformen aus. 

Wird die Außenwelt es zulassen, dass Russland das „Kontinuitäts“-Szenario verwirklicht? Einerseits wird der Westen in den kommenden Jahren durch seine eigene Systemkrise völlig in Anspruch genommen werden und einfach keine Zeit für Russland haben. Andererseits kann Europa ungeduldig werden, wenn es begreift, dass es mit einer langsamen Evolution Russlands und den damit unvermeidlich verbundenen Elementen einer Stagnation zu tun haben wird. Wenn dem so sein sollte, wird es dann versuchen, Russland zu isolieren? In diesem Entwicklungsmodell wird Russland nicht zu Europas idealistischen Vorstellungen passen.

Welche innenpolitische Strategie die russische Führung nach den Präsidentenwahlen auch einschlagen wird, die außenpolitische Annäherung an Asien wird fortgesetzt werden. Es wird kein gezieltes Einfrieren der Beziehungen gegenüber der Europäischen Union geben, aber die Diversifikation der internationalen Beziehungen wird in den nächsten fünf Jahren in Russland Vorrang haben. Oder wie ein Teilnehmer in der Diskussion sagte: „Die Orientierung nach Asien ist keine Entscheidung für eine Zivilisation, sondern eine Notwendigkeit, die es Russland ermöglichen wird, seinen angemessenen Platz in der Weltpolitik zu behaupten“.

 

Die Anbindung Asiens an Europa

2012 wird Russland zum ersten Mal einen Gipfel der APEC (Asiatisch-pazifische Wirtschaftsgemeinschaft) in Wladiwostok ausrichten. Als dessen gegenwärtiger Vorsitzender hat Moskau vorgeschlagen, dass die Länder dieses Wirtschaftsraums zusammen mit der Lebensmittelsicherheit und -innovation ein Programm für die Entwicklung von Transport und Logistik erörtern, um Asien an Europa und die Vereinigten Staaten anzubinden. Russland ist daran interessiert, ein Schlüsseltransitland zu werden, indem es das Potential Sibiriens und des Fernen Ostens nutzt.

Moskau ist durchaus bereit, sich Europa weiter anzunähern, sieht aber kein Entgegenkommen von Seiten Europas, das sich durch Visa und andere für die russische Geschäftswelt gestellte Barrieren abschottet. Der Dialog zwischen Moskau und der Europäischen Union zeigt auf beiden Seiten Zeichen der Erschöpfung. Dennoch wollen beide Seiten nicht eingestehen, dass es einer Pause in den gegenseitigen Beziehungen bedarf.

Wie lange diese Pause andauern wird – sechs Monate, ein Jahr oder mehrere Jahre – hängt  auch davon ab, wann Europa aufhören wird, Russland als einen Juniorpartner zu sehen, und seine Bereitwilligkeit und Fähigkeit demonstriert, ein Kooperationsprogramm zu starten. Bis jetzt hatten die Russlands-EU-Gipfel immer dieselbe, immer weiter zusammen gestutzte Tagesordnung gehabt. Im Gegensatz dazu sucht Asien nach einer engeren Anbindung an Russland und ist bereit, dieses als gleichberechtigten Partner zu behandeln, da es sich davon Wirtschaftsvorteile erhofft.

 

Die Mittelstandsmassen

Ein chinesischer Politikwissenschaftler hat auf der Veranstaltung des Valdai Clubs die Frage aufgeworfen, welche Rolle China im sich modernisierenden Russland spielen wird. Moskau hat noch keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Nichtsdestotrotz ist es bemerkenswert, dass der erste Auslandsbesuch von Ministerpräsident Wladimir Putin nach dessen Kür zum Präsidentschaftskandidaten nach China führte.

In Variation des Archimedes-Zitats „Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde dir die Welt aus den Angeln heben“ könnte man sagen, dass Soziologen den Mittelstand als eine Kraft ansehen, die in der Lage ist, Russland in den nächsten fünf bis sieben Jahren nachhaltig zu bewegen – die Mittelschicht wächst in Russland rasant. Allerdings bahaupten Soziologen auch, dass der Mittelstand sich zwar mittlerweile für  Politik interessiert, aber noch keine unabhängige politische Kraft darstellt. Er erwartet vom Staat, dass dieser klare und unveränderliche Regeln für die Geschäftswelt aufstellt, will aber keine staatliche Einmischung in die Angelegenheiten der Unternehmer.

Der Weg, den Russland beschreiten wird, ist abhängig davon, ob sich der zukünftige Mittelstand unter dem Banner einer Partei sammeln und wie sich dessen kulturelles Niveau und seine ethnische Zusammensetzung entwickeln wird.

Der Vorsitzende der Stiftung Russkij Mir,WjatscheslawNikonow, sagt indes, dass die Ausarbeitung selbst des plausibelsten Szenarios für Russlands Entwicklung keinen Sinn hat, und ködert die Teilnehmer mit einem „altmodisch intellektuellen Modell”. Die Diskussion müsse sich auf konkrete Projekte konzentrieren, die die Zukunft des Staates bestimmen: den Staatshaushalt, die Aussichten für eine Re-Industrialisierung und Innovationen. Dies sind die Rahmenbedingungen, von denen abhänge, wie Russland sich entwickelt wird, wer seine Partner sein werden und welches politische System sich herausbilden wird.

 

Jewgenij Schestakow ist Redakteur der internationalen Redaktion der Rossijskaja Gaseta.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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