Niyaz Karim
Als Präsident Dmitrij Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin am Abend nach den Dumawahlen in Russland auf den Fernsehbildschirmen zu sehen waren, sprachen ihre Gesichter Bände. Ihr aufgesetztes Lächeln konnte die Enttäuschung der beiden wichtigsten Personen im Land nicht verbergen. Ihre Partei "Einiges Russland" war von den Russen heftig abgewatscht worden. Im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren war der Stimmenanteil ihrer Partei von fast 64 Prozent auf ca. 50 Prozent zurückgegangen. Und dies trotz der massiven Wahlmanipulationen, die überall im Land angeprangert worden waren. Vergeblich haben regionale Gouverneure, örtliche Behörden und die Polizei Strafanzeigen gegen oppositionelle Parteien, Wahlbeobachter und Journalisten erstattet. Erheblich peinlicher jedoch war die Tatsache, dass "Einiges Russland" ausgerechnet in Moskau, St. Petersburg und anderen Großstädten die schlechtesten Ergebnisse erzielt hat. Ohne die massiven Manipulationen wäre die Partei in den beiden Hauptstädten möglicherweise nur auf Platz drei gelandet.
Am Wahlabend führte ich ein Radio-Interview mit Andrej Worobjow, dem Leiter des Exekutivkomitees von "Einiges Russland". Diese Position entspricht mehr oder weniger einem Parteivorsitzenden in den USA. Mehrfach weigerte sich mein Gesprächspartner im Laufe des Interviews, die Frage zu beantworten, womit er sich den Verlust von fast 15 Prozent der Wählerstimmen erklären könne. Ich empfand eine gewisse Sympathie für Worobjow. Seine Kollegen und er waren offensichtlich absolut ratlos. Und das sollten sie auch sein. Was wir am 4. Dezember erlebt haben, ist gleichbedeutend mit einer Wiedergeburt der Politik in Russland. Zu einem Zeitpunkt, als alle sie bereits abgeschrieben hatten. Daraus können mehrere Schlussfolgerungen gezogen werden.
Erstens war diese Wahl de facto ein Referendum über ein ganzes Jahrzehnt, in dem die Partei "Einiges Russland" die Macht innehatte. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das offizielle Ergebnis ohne Manipulationen zustande gekommen ist, was definitiv nicht der Fall ist, wurde mit diesen Wahlen ein wirklich ernstzunehmendes Signal an die herrschende Klasse des Landes gesendet. Auch wenn es noch keine echte Botschaft sein muss, dass grundverschiedene Menschen aus unterschiedlichen Gründen gegen die herrschende Partei gestimmt haben, kam eines definitiv zum Ausdruck: Die Bevölkerung hat das politische Monopol und die damit zusammenhängende Korruption satt.
Zweitens glauben viele Russen noch immer, dass es sich bei "Einiges Russland" um einen Haufen "schlechter Bojaren" am Hof des "guten Zaren" Wladimir Putin handelt. Allerdings ist auch klar, dass die Wahl für viele Menschen eine Möglichkeit darstellte, ihre Enttäuschung über Putin selbst zum Ausdruck zu bringen. In dieser Hinsicht können die jetzigen Wahlen als eine Art Generalprobe der russischen Präsidentschaftswahlen, die im März 2012 stattfinden, angesehen werden. Es herrscht weitgehender Konsens darüber, dass Putin dann für eine dritte Amtszeit gewählt wird. Allerdings haben die Dumawahlen nun einen Schatten über ihn geworfen. Sollte Putin im Frühjahr wieder einmal eine künstliche Schlacht führen, die meisten bisherigen Wahlen waren so abgelaufen, würde seine Glaubwürdigkeit noch mehr leiden.
Er hätte, zugegebenermaßen ein unwahrscheinliches Szenario, etwas wagen können und einen echten Wettbewerb nach einer "Putin 2.0"-Strategie zulassen können. Doch die restriktiven Gesetze, die er und "Einiges Russland" vorangetrieben haben, lassen wenig Raum für eine echte Herausforderung und mögliche Herausforderer. Somit ist Putin nicht nur mit einer wachsenden Unzufriedenheit der Massen konfrontiert. Es wächst auch die Enttäuschung über seine Unfähigkeit, die Situation innerhalb der herrschenden Klasse in den Griff zu bekommen. Ein interner Zwist im Kreml scheint zurzeit nicht sehr wahrscheinlich, doch könnte sich die Lage in den kommenden Monaten durchaus ändern.
Drittens waren dies die letzten Wahlen, bei denen das staatlich kontrollierte Fernsehen noch eine entscheidende Rolle spielte. Das Internet ist in Russland heftig auf dem Vormarsch. Die Zahl der Internetnutzer ist von monatlich 32 Millionen im Jahre 2008 auf täglich 50 Millionen im Jahre 2011 gestiegen. Bis zum Beginn der nächsten Wahlperiode im Jahre 2016 könnten annähernd 75 - 80 Prozent der Wähler über einen Internetzugang verfügen. Und selbst wenn 80 oder 90 Prozent der Nutzer im Web auf der Suche nach Klatschgeschichten über Promis, auf Partnersuche oder der Suche nach günstigen Schnäppchen sind, steht politisch interessierten Bürgern nun eine kostenlose Plattform zur Verfügung, auf der sie miteinander debattieren und sich organisieren können. Ohne Smartphones, Facebook und Twitter wäre es unmöglich gewesen, auf die Wahlmanipulationen aufmerksam zu machen. Freilich geht es bei realer Politik stets um direkte Interaktion von Menschen. Doch dieses Mal ermöglichte der Online-Aktivismus nicht nur die Offline-Selbstorganisation, er führte vielmehr dazu, dass sie Effektivität zeigte. Aus diesem Grund ist es möglich, dass die Regierung versuchen wird, restriktive Gesetze im Hinblick auf das Internet einzuführen. Auf eine solche Entwicklung werden wir 2012 unser Augenmerk zu richten haben.
Diese Tatsache führt auch zur vierten Schlussfolgerung. Bei diesen Wahlen ging erstmals die sich in Russland herausbildende neue "Mittelschicht", die unabhängigen, englischsprechenden und mit dem iPod jonglierenden Mittdreißiger, tatsächlich zur Wahlurne. Diese Generation hat bisher am meisten von dem "fetten Jahrzehnt" - so werden die ersten beiden Amtszeiten von Wladimir Putin als Präsident von 2000 - 2008 genannt -, profitiert. Es waren die Jahre des Öl-Booms, in denen sie ihren Wohlstand erlangten. Viele unter ihnen ignorierten die Politik komplett, andere wiederum unterstützten Putin und "Einiges Russland". Wirtschaftskrise, politische Stagnation und Korruption führten jedoch dazu, dass sie sich abwandten. Und das Problematische daran ist, dass sie niemals zurückkehren werden. Über den Verlust von Unterstützung bzw. über Gleichgültigkeit sollte man keinesfalls achselzuckend hinweggehen.
Schließlich kann fünftens festgestellt werden, dass die Behörden durch ihr brutales Vorgehen immer mehr Opposition heraufbeschwören. Wenn die Russen auf die letzten Jahre zurückblicken, entdecken sie noch immer nicht allzu viele Alternativen. Es gibt keine glaubwürdigen, Mitte-rechts-gerichteten Kräfte, und es gibt niemanden, dem die annähernd 30 Prozent der gemäßigten nationalistischen Wähler zujubeln könnten. Dies schafft einen fruchtbaren Nährboden für Populisten und Demagogen. Zurzeit stellt die potentiell gefährliche Lücke, die sich plötzlich auftun könnte, wenn nicht bald Schritte unternommen werden, um Russlands veraltetes und ineffizientes politisches System zu modernisieren und zu befreien, die größte Gefahr für Russland dar.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!