Ist Russland auf erneute Krise vorbereitet?

Foto: Kommersant

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Die Situation in der russischen Wirtschaft wird immer diffuser. Es stellt sich die Frage ob die russischen Politiker das ganze Ausmaß der vor ihnen stehenden ökonomischen Probleme erfassen. Verstehen sie, dass die russische Wirtschaft, wenn auch unter dem Einfluss äußerer Faktoren, an Grenzen gestoßen ist, hinter denen ernste ökonomische Erschütterungen beginnen? Sind die russischen Politiker bereit, notwendige System- und institutionelle Reformen nach den Wahlen am 4. Dezember zu verkünden?

Die Situation in der russischen Wirtschaft wird immer diffuser. Auf der einen Seite stehen das gar nicht so schlechte Ergebnis des III. Quartals und die Konjunkturbelebung in der Bauwirtschaft. Dazu kommt die Korrektur  der offiziellen Entwicklungsprognose des Finanzministeriums für das aktuelle Jahr, das von einem Wachstum der Wirtschaft ausgeht.

Auf der anderen Seite stehen die nicht Abebben wollenden Voraussagen einer erneuten Krise. Die Lage erinnert, betrachtet man eine Reihe qualitativer Parameter, sehr stark an die Wirtschaftssituation in Russland im Herbst 2008.

Schauen wir uns das Bild näher an. Die Verschärfung der Finanzkrise in Europa hat zu einer fast vollständigen Schließung der Fremdkapitalmärkte für russische Kreditnehmer geführt. Zudem sah sich das Ministerium für Wirtschaftsentwicklung unlängst  gezwungen, das prognostizierte Niveau des Kapitalnettoabflusses aus Russland im Jahre 2011 auf 80 Milliarden US-Dollar anzuheben.

Gründe dafür sind der planmäßige Schuldenabbau, die sich auf dem Niveau der letzten Monate befindende Kapitalflucht ins Ausland sowie der niedrige Zufluss ausländischer Direktinvestitionen, denn am  Investitionsklima hat sich ja nichts geändert. Für uns Wirtschaftswissenschaftler klingt die Vorhersage des Wirtschaftsministeriums zu optimistisch. Wir halten einen Anstieg des Kapitalabflusses auf 100 Milliarden US-Dollar für wahrscheinlicher. 

Der Gewinn der russischen Wirtschaft war im September sehr stark rückläufig. Offensichtlich macht sich hierbei insbesondere die 12%ige Abwertung des Rubels bemerkbar. Sogar die traditionell gewinnbringenden Branchen wie der Energiesektor, die Industrie, das Transportwesen, die Telekommunikation, der Finanzsektor und der Immobilienhandel schlossen im September mit einem  Minus ab.

Das Fehlen einer externen Finanzierung und die Verluste, die durch die Abwertung des Rubels eingetreten sind, bleiben nicht ohne Folgen. So sahen sich die privaten Banken dazu gezwungen, das Volumen der Kredite, die der Realwirtschaft zur Verfügung gestellt werden, zu verringern. Die staatlichen Banken bemühen sich um Hilfe durch die Finanzbehörden, um ihre Liquidität zu gewährleisten.

Die Höhe der Summen zur Sicherung der Liquidität des russischen Bankensystems durch das Finanzministerium und die Staatsbank Russlands unterscheidet sich ihrem Umfang nach praktisch nicht von dem, was wir im Herbst 2008 erlebt haben.

Es lässt sich vermuten, dass sowohl der Ausbau des  Kreditportfolios der staatlichen Banken als auch der Umfang der von ihnen durch die Finanzbehörden erhaltenen Liquidität in allernächster Zeit zu weiteren  Finanzspritzen aus dem Staatshaushalt führen werden.

Allen ist klar, dass es ohne tiefgreifende Änderungen am System und den Institutionen der Eurozone kaum gelingen wird, die jetzige Situation wirksam zu überwinden. Deshalb warten wir mit Ungeduld auf die Beschlüsse des nächsten Eurogipfels am 9. Dezember.

Es sieht so aus, als ob die europäischen Politiker bereit sind, radikalste Entscheidungen, die gestern noch völlig undenkbar schienen, zu treffen. Wir hoffen, dass die Beschlüsse den anstehenden Problemen gerecht werden.  Denn die Stabilität des globalen Finanzsystems hängt heute direkt davon ab, was, wie und wann in der Europäischen Union geschieht.

Gleichzeitig stellt sich die Frage: Erfassen die russischen Politiker das ganze Ausmaß der vor ihnen stehenden ökonomischen Probleme? Verstehen sie, dass die russische Wirtschaft, wenn auch unter dem Einfluss äußerer Faktoren, an Grenzen gestoßen ist, hinter denen ernste ökonomische Erschütterungen beginnen?

Das Gerede von der „Insel der Stabilität“ erinnert uns schmerzhaft an die Sprüche von vor drei Jahren. Es wird wie der Schnee auf den Straßen Moskaus im Frühling dahin schmelzen.

Deshalb muss man sich fragen, ob unsere Politiker wirklich bereit sind, entsprechende System- und institutionelle Reformen nach den Wahlen am 4. Dezember zu verkünden? Oder müssen wir noch die Wahlen am 4. März bzw. die Amtseinführung des neuen alten russischen Präsidenten im Mai des nächsten Jahres abwarten?

Oder wird überhaupt nichts geschehen, während die Erdölpreise auf dem Weltmarkt fallen werden? Denn diese sind bisher der einzige Anker für die ökonomische und politische Stabilität in Russland. Und diese Stabilität ist, wie wir wissen, für uns das Wichtigste.

Der Autor ist ehemaliger stellvertretender Chef der Zentralbank Russlands und heutiger Direktor für makroökonomische Forschung an der Wirtschaftshochschule in Moskau

 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Wedomosti.ru.

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