Die Frage nach der Wahrheit

Foto: RIA Novosti

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Über eine Woche ist seit den Präsidentschaftswahlen in Südossetien vergangen, doch noch immer kommt es in der Hauptstadt der Republik zu Demonstrationen. Anhänger der Oppositionsführerin Alla Dschiojewa fordern den Obersten Gerichtshof auf, sie als Präsidentin anzuerkennen. Der Fotograf Michail Mordasow zeigt Aufnahmen vom "kaukasischen Frühling".

  

Foto: Mikhail Mordasov

"Zeigt die Wahrheit! Weshalb zeigt ihr nichts davon?" Diese Fragen stellen die Unterstützer von Alla Dschiojewa den Journalisten zehn Mal am Tag - ganz gleich, ob der Journalist ein Aufnahmegerät oder eine Kamera mit sich führt. Doch daneben vernimmt man auch gegenteilige Aussagen, wenn Journalisten zugerufen wird: "Hört auf zu filmen! Ihr habt noch überhaupt nichts davon gezeigt."

Doch es gibt nichts aufzunehmen. Seit fast einer Woche machen die Menschen auf dem Platz Feuer, bereiten Tee und Fleisch in Töpfen zu, bauen Zelte auf, schleppen Holz und Matratzen sowie Generatoren für Licht und Musik herbei. Manchmal tanzen und singen sie, und manchmal tauchen Dschiojewa oder Mitarbeiter ihres Stabes vor den Menschen auf und rufen dazu auf, die Sache auf friedliche Weise zu klären - doch in Wirklichkeit klären sie überhaupt nichts. Weder Moskau noch Kokoity erhören sie. Sie wird nicht wie eine Politikerin, sondern wie ein kaukasische Frau behandelt: Sie hat ihren Platz zu akzeptieren und sich nicht in die Angelegenheiten der Männer einzumischen.

Die Menschen verharren auf dem Platz. Sie haben ihre Wahl getroffen. Die Soldaten, die auf der gegenüberliegenden Seite das Regierungsgebäude bewachen, sind für sie keine Fremden. Sie leben hier, unterhalten sich mit ihren Freunden und Nachbarn, die ebenfalls im Einsatz sind, um ihre eigene Ordnung zu schützen: das Recht, ihre eigene Führung wählen zu können. Sie sprechen mit den Mädchen, grüßen und umarmen die Jugendlichen und die Männer. Die Männer hacken Holz und werfen es in Fässer, damit sie in der Nacht (wenn die Temperaturen auf -10° C fallen) nicht frieren müssen. Die Mädchen bringen ihre Garderobe auf den neuesten Stand: Es ist jetzt "modern", mehrere Hosen übereinander zu tragen, eine Jacke und warme Stiefel sowie einen Schal oder ein Tuch um den Hals. Abends spielen sie Akkordeon oder Gitarre auf der Straße, in einer Diskothek oder in einem Zelt. Für die Menschen entwickelt sich eine neue tägliche Routine. Alla Dschiojewa scheint selbst nicht zu wissen, was zu tun ist. Jeden Tag kommt sie mit etwas Neuem, und es sieht aus, als ob alles zu Ende gehen würde. Die Journalisten glauben jeden Tag, dass morgen alle wieder nach Hause gehen. Doch sie kehren jeden Morgen zu dem Platz zurück. 

 

Bei den Präsidentschaftswahlen in Südossetien wurden zwei Wahlgänge durchgeführt. Im zweiten Wahlgang kämpften Anatolij Bibilow, der Leiter des Ministeriums für Notsituationen, und die Kandidatin der Opposition Alla Dschiojewa, um die Gunst der Wähler. Im Vorfeld der Wahlen galt Dschiojewa als aussichtsreichste Kandidatin. Doch die Wähler haben noch immer nicht das Endergebnis der Wahlen erfahren - der Oberste Gerichtshof Südossetiens erklärte die Wahlen für ungültig und stützte diese Entscheidung auf gemeldete Verstöße gegen die Wahlordnung. Dschiojewa lehnte die Annulierung des Wahlergebnisses ab, erklärte sich zur Präsidentin und gründete einen Staatsrat, "um einen verfassungsgemäßen Übergang der Macht sicherzustellen". Der gegenwärtige Präsident von Südossetien Eduard Kokoity bezeichnete die Situation in der Republik als "orangene Revolution", wie bei den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine 2004. 

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