Alexej Kudrin sieht sich nicht als Gleichgesinnten Wladimir Putins

Foto: Reuters_VP

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Alexej Leonidowitsch Kudrin, der unter Jelzin stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung und seit 2000 russischer Finanzminister war, bis er im September 2011 von Medwedew geschasst wurde, weil er öffentlich erklärte, er werde nicht unter einem Präsidenten Putin arbeiten, äußert sich zu aktuellen Themen rund um die Duma-Wahl.

“Die politische Landschaft wird sich ändern“

— Wie bewerten Sie die stattgefundenen Wahlen?


— Diese Wahl markiert einen Wendepunkt für die Demokratie in Russland. Der russische Bürger ist politisch aktiv geworden. Selbst Nichtwähler demonstrieren durch ihr Fernbleiben von der Wahlurne ihre politische Position. Bei dieser Wahl wollten die Bürger nicht nur die Kandidaten frei wählen, sondern sie betrachteten die Wahl erstmals selbst als Ausdruck von Demokratie, von Freiheit und Gerechtigkeit. Dass die Partei Einiges Russland Einfluss verloren hat, ist nur logische Konsequenz. Dabei braucht man den vielfältigen Vorwürfen der Wahlmanipulation gar nicht einmal auf den Grund zu gehen. Die Regierungspartei wird nun auf Koalitionen mit anderen Parteien angewiesen sein.

Die Wahlkommissionen wie auch die Wahlbeobachter haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Wenn ein Leiter einer Wahlkommission die Forderung von Wahlbeobachtern ablehnt, Stimmzettel nachzuzählen, sondern das auch auf jede erdenkliche Weise verhindert, ist das einfach nur noch eine Verletzung der Pflichten der Wahlkommission und hat mit Demokratie nichts zu tun! Und das ist kein Einzelfall. Möglicherweise muss man die Gesetze ändern, um die Wahlbeobachter mit den notwendigen Vollmachten auszustatten. Wenn es stimmt, dass zusätzliche Stimmzettel eingeworfen wurden, müssen sich diejenigen, die dies veranlasst und getan haben, verantworten, nötigenfalls auch wegen Wahlbetrugs vor dem Staatsanwalt. Zweifellos müssen in einigen Wahllokalen und sogar in ganzen Wahlbezirken die Stimmen nochmals nachgezählt werden. Ich bin der Meinung, dass die Forderung nach dem Rücktritt von Wladimir Tschurow, dem bisherigen Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, zu Recht geäußert wurde. Wenn dies nicht passiert, werden die nächsten Wahlen genauso schlampig laufen.

— Meinen Sie damit die Präsidentschaftswahlen?


— Alle möglichen Wahlen: die Präsidentschaftswahlen, die Regionalwahlen. Das Ignorieren von Wahlmanipulationen stellt die Demokratie selbst und die Rechtmäßigkeit der Wahlen in Frage. Es wäre zu wünschen, wenn Dmitrij Medwedew nicht einfach erklärt, dass die Wahlen ehrlich und gerecht abgehalten worden seien, sondern alle Vorwürfe der Wahlmanipulation untersuchen ließe.

— Und für wen haben Sie denn gestimmt?


— Ich habe von meinem Wahlrecht Gebrauch gemacht und bin zur Wahl gegangen. Damit konnte mein Stimmzettel auch nicht für irgendwelche Wahlfälschungen missbraucht werden. Für wen ich gestimmt habe, bleibt mein Wahlgeheimnis, es war aber nicht Einiges Russland.

— Was halten Sie von den Protestaktionen, die im ganzen Land auflodern?


— Der Wunsch der Bürger, ihrem Protest auch öffentlichen Ausdruck zu verleihen, ist nachzuvollziehen und entspricht der Verfassung. Der Staat hat die Sicherheit solcher Massenveranstaltungen zu gewährleisten, was er auch getan hat. Es bringt nichts, sie künstlich einzuschränken, damit es später nicht zu Auseinandersetzungen kommt.

“Die politische Landschaft wird sich ändern“

— Haben Sie Ihre Meinung über Einiges Russland geändert? Früher äußerten  Sie einmal, dass die Partei Ihnen nicht besonders nahe stünde.


— Früher, vor fünf Jahren, war ich der Meinung, dass Einiges Russland eine ernstzunehmende Partei mit einer Mitte-Rechts-Ausrichtung werden könnte. Aufgrund der nicht ganz einfachen Geschichte Russlands kann man nicht sofort mit einer breiten Unterstützung liberaler Werte rechnen. Deshalb ist eine Mitte-Rechts-Partei eine völlig vernünftige Perspektive für unser Land. Im Wesentlichen wurde eine solche Politik auch bis 2007  betrieben. Danach begann Einiges Russland nach links zu driften. Und jetzt ist sie mehr eine Mitte-Links-Partei. Wir sehen uns am heutigen Tag in Russland einer seltsamen Parteienlandschaft gegenüber: Es gibt vieles, aber keine einzige liberale Partei! Der Wahlausgang war ein Schlag für die Regierungspartei. Der Partei Einiges Russland wurde vorgeführt, dass die von ihr gemachten Versprechungen nicht umgesetzt wurden: Schutz des Unternehmertums, Bekämpfung der Korruption, ein gerechteres Rechtssystem, eine freie Wirtschaft — in all diesen Bereichen gab es vollmundige Versprechen, denen aber keine Taten folgten. Die neue Regierung wird wohl noch einige Zeit brauchen, um zu begreifen, was passiert ist. Aber Zeit ist jetzt kostbar. Ich bin überzeugt, dass sich gleichzeitig eine neue liberale Partei bilden wird, die diese Probleme ansprechen wird. In diese Partei werden Leute mit Erfahrung eintreten, Leute aus der Wirtschaft. Allmählich wird sich die politische Landschaft ändern.

— Glauben Sie, dass eine neue rechts-konservative Partei auftauchen wird?


— Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch eine solche Partei zum künftigen Spektrum gehören wird.

— Allerdings ist der Versuch, schon vor den Wahlen eine solche Partei zu gründen, gescheitert. Noch bevor die Partei Gerechte Sache Michail Prochorow zum Parteichef küren wollte, hatte man Ihnen selbst diese Offerte gemacht.


— Das Angebot gab es in der Tat.

— Wer hat Ihnen den Parteivorsitz angetragen?


— Dmitrij Medwedew höchstpersönlich. Im Verlauf der letzten Jahre haben wir des Öfteren die Probleme unseres politischen Systems diskutiert. Wir waren uns einig, dass das System unvollkommen ist, dass es keinen konservativen Flügel gibt und dass dies das Spektrum der politischen Parteien wesentlich einschränkt. Wir waren der Meinung, dass es einer rechts-konservativen Partei bedarf. Ungefähr anderthalb Jahre vor den Wahlen - im Frühjahr 2010 während der Krise - sprach er erstmals davon. Und er legte mir den Vorsitz einer solchen Partei nahe. Ich konnte mir ausrechnen, welch schwieriges Unterfangen das werden würde. Ich lehnte also ab, versicherte aber Medwedew meiner Unterstützung für sein Vorhaben. Danach passierte erst einmal nichts: Die Partei Gerechte Sache bildete sich nur durch den Zerfall mehrerer anderer Parteien. Das nächste Gespräch mit dem Präsidenten fand im Frühjahr statt. Er bat mich darüber nachzudenken, ob ich denn nicht jetzt einer konkreten Organisation — der Gerechten Sache – vorstehen könne.

— Erklärten Sie sich einverstanden?


— Nein. Ich gab zwar zu, dass die Verteidigung liberaler demokratischer Werte meinen Überzeugungen entspricht, und ich pflichtete ihm auch bei, dass das konservative Spektrum in Russland nicht abgedeckt sei. Die Partei Gerechte Sache hielt ich nicht für den besten Weg. Dennoch war zu diesem Zeitpunkt bereits klar, dass die Zeit für die Gründung einer neuen gänzlich Partei nicht ausreichen würde. Ich erinnerte nochmals daran, dass ich versprochen hatte, meinen Posten in der Regierung in solch einem entscheidenden Moment nicht hinzuwerfen. Ich hielt es dennoch für angebracht, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, traf mich mit Repräsentanten von Gerechte Sache, brachte in Erfahrung, was das für eine Organisation war. Und ich konnte mich endgültig davon überzeugen, dass bei der Gerechten Sache nichts herauskommen würde.

— Und Sie gaben Medwedew einen Korb?


— Ja. Ich fand, dass die Gerechte Sache in der Form, in der sie gegründet worden war, für mich keine Option darstellte. Ich erkannte,

dass Gerechte Sache mit ihren Leuten, die teilweise kremltreu waren oder diffuse Ziele verfolgten, geradezu handlungsunfähig war. Nichtsdestotrotz war ich verwundert, mit welcher Wucht die Präsidialverwaltung den Politiker und Millionär Michail Prochorow auseinandernahm.

— Sehen Sie sich an der Spitze einer rechts-konservativen Partei?


— Noch vor einem halben Jahr, als Gerechte Sache in aller Munde war, machten alle sich Sorgen, dass im konservativen Flügel keine repräsentativen Kräfte gibt. Und nun zeigt sich, dass dieser Mangel noch wesentlich fataler ist, als wir uns damals vorstellen konnten. Heute müssen wir offen zugeben, dass die Sehnsucht nach einer rechts-konservativen Kraft so groß ist, dass sie sich automatisch herausbilden wird. Zurzeit ist der Konsolidierungsprozess der liberalen und demokratischen Kräfte voll im Gange. Ich bin mir dessen absolut sicher und werde selbst diesen Prozess unterstützen.

— Es wird kolportiert, dass Sie mit Michail Prochorow über die Gründung einer neuen Partei gesprochen haben. Stimmt das?


— Ich stehe im Kontakt mit Prochorow. Ich bedauere, dass er nicht dasselbe vorausgesehen hat, was ich kommen sah: Er ließ sich auf dieses Projekt ein, und es endete mit einem grandiosen Fiasko. Nichtsdestotrotz respektiere ich seinen Mut und - was noch wichtiger ist - das öffentliche Eingeständnis seiner Fehler, die er dabei gemacht hat. Gegenwärtig gibt es zwischen uns aber keinerlei Absprachen bezüglich der Gründung einer Partei.

— Momentan rätseln viele Funktionäre, welchen Posten Sie bekleiden werden. Halten Sie es für denkbar, wieder in der Führungsspitze zu arbeiten?


— In der nächsten Zeit eher nicht. Innerhalb von zwei Monaten haben sich meine Anschauungen nicht geändert. Mein gespanntes Verhältnis zum Wirtschaftskurs, zur Sozialpolitik und zur Reform des Rentensystems ist geblieben. Unter Berücksichtigung der demografischen Situation Russlands werden die Probleme noch schneller zunehmen als in den Ländern, mit denen wir uns normalerweise vergleichen, das heißt in den USA und in den Ländern der Europäischen Union. Dort werden gerade weitreichende Entscheidungen getroffen. In Russland dagegen passiert überhaupt nichts, wir verlieren kostbare Zeit. Die Aufholjagd wir uns schwerfallen, weil alle sozialen Weichenstellungen erst nach einer gewissen Zeit Wirkung zeigen. Um Ergebnisse zu erzielen, braucht es mindestens fünf bis zehn Jahre.

“Wir haben die Grenzlinie überschritten“

 

“Wir haben die Grenzlinie überschritten“

— Aber erst 2009 wurde doch eine groß angelegte Rentenreform durchgeführt. Müssen wir denn jetzt schon wieder eine neue ausbrüten?


— Die Reform im Jahre 2009 hat die Probleme des Rentensystems nicht grundsätzlich gelöst. Angesichts der Herausforderungen, vor denen Russland steht, sind wir zu kurz gesprungen. Ich glaube, dass wir damals, eine Grenzlinie überschritten haben, die Grenzlinie zum Populismus. Bis dahin haben wir kontroverse, aber sachliche Diskussionen geführt. Aber nach 2009 war dann plötzlich nichts mehr unmöglich. Die Regierung hat sich jeweils dem größten Druck gebeugt und allen irgendwelche Zugeständnisse gemacht. Die Abhängigkeit des Staatshaushalts vom Erdölexport stieg explosionsartig.

— Warum scheute die Regierung davor zurück, harte Entscheidungen zu treffen?


— Es konnte und durfte nicht sein, dass die Popularität unserer Führer und die der Partei Einiges Russland sinkt. Man wollte unter allen Umständen das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung vor den Wahlen erhalten. Schmerzhafte Entscheidungen hätten dieses Vertrauen erschüttern können. Aber wie wir heute sehen, ist das Vertrauen trotzdem verloren gegangen. Vielleicht ist das Vertrauen gerade bei dem Teil der Bevölkerung auf der Strecke geblieben, der sich lieber realistische und pragmatische Lösungen gewünscht hätte. Ein aktiver Teil der Bevölkerung begreift, dass Populismus unterm Strich zu nichts Vernünftigen führt - allenfalls zu Steuererhöhungen.

— Ihnen wird häufig Defätismus vorgeworfen: Russland könnte sein Haushaltsdefizit vergrößern, die Staatsverschuldung anheben.


— Es kann sein, dass viele so urteilen. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass wir keine Gelddruckmaschine im Keller haben, mit der wir unser Staatsdefizit ausgleichen könnten.

Wir haben aber doch Öl und Gas!


— Wir durchleben gerade ein historisches Preishoch für fossile Rohstoffe. Ob die Preise sich weiterhin auf einem solch hohen Niveau bewegen, weiß niemand. Wir hatten bereits einmal einen so hohen Preis im Jahre 1983, doch dann fiel er auf ganze acht US-Dollar pro Barrel. Und das ist gar nicht so lange her. Ein Preisabsturz ist also durchaus ein realistisches Szenario. Wir müssen begreifen, dass wir lediglich über endliche Ressourcen verfügen. Bereits ein Preissturz auf unter 80 US-Dollar pro Barrel würde zu einer ernsthaften Krise in Russland führen. Ein Ansteigen des Erdölpreises ist natürlich auch denkbar, wie auch das Beibehalten des gegenwärtigen Niveaus. Wir dürfen unser Schicksal nicht vom Erdölpreis abhängig machen. Unsere Probleme bestehen auch in Kapitalflucht oder in schwächelnder Nachfrage nach russischen Produkten. Die Krise wird uns von mehreren Seiten treffen und nicht nur durch den Preisverfall des Erdöls.

— Was halten Sie von der Wirtschaftslage in Europa?


— Es sieht nach einer Rezession in der Eurozone aus.

— Die zweite Welle der globalen Krise, von der Sie bereits im Jahre 2009 gesprochen haben, ist nun da. Damals wurden für Ihre Prognose hart gescholten.


Damals wollte keiner glauben, dass eine "zweite Welle" auf uns zukommt. Heute wissen wir: Sie hat rollt. Leider weiß niemand, wohin sie führt. Nationale Probleme schaukeln sich zu globalen Problemen auf, sie schwappen über, Länder und ganze Kontinente werden in schneller Folge überrollt. Weder wir noch die Welt haben dem etwas entgegenzusetzen. Die ökonomischen Gesetze sind dennoch immer noch dieselben. Es ganz offensichtlich, dass das Anwerfen der Notenpresse zwar die Nachfrage steigern, kurzfristig der Wirtschaft helfen und die Arbeitslosigkeit senken kann, aber sie wird massiv zur Inflation führen. Und langfristig werden die Probleme nicht gelöst.

Die ungekürzte Fassung des Interviews erschien in der Zeitung Wedomosti.

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