Protest auf russisch

Polizeikette in Aktion.Foto: ITAR-TASS

Polizeikette in Aktion.Foto: ITAR-TASS

Einen solchen Ausbruch politischer Proteststimmung hat es in Russland seit Beginn der 90er Jahre nicht mehr gegeben. Allein in Moskau versammelten sich am 10. Dezember 25.000-85.000 Menschen, um ihrem Ärger über die nach ihrer Auffassung gefälschten Ergebnisse der Parlamentswahlen Ausdruck zu verleihen. Genaue Zahlen über die Größenordnung der Demonstrationen liegen bis heute nicht vor. Vergleichbare Aktionen gab es im ganzen Land und sogar jenseits der russischen Grenzen. Kremltreue Aktivisten blieben auch nicht untätig und versammelten sich auf freilich weniger zahlenstarken Gegenkundgebungen.

Bemerkenswerterweise wurden während der ersten Protestveranstaltungen gegen die Wahlergebnisse nach Angaben aus verschiedenen Quellen an die Tausend Demonstranten festgenommen, während die Einsatzkräfte der Polizei sich am 10. Dezember zurückhielten, ja sogar eine beneidenswerte Bereitschaft offenbarten, sich mit den Protestierenden zu verbrüdern. Diese gaben übrigens keinerlei Anlass zu einem anderen Verhalten, sondern zeigten sich ausnehmend behutsam und bestrebt, auch kleinste Provokationen und gewaltförmige Ausschreitungen im Keime zu ersticken.

Obwohl Artikel 31 der russischen Verfassung Versammlungsfreiheit garantiert und ein bloßes Anmeldeverfahren für Straßenkundgebungen vorsieht, brauchen die Veranstalter von Demonstrationen de facto eine Erlaubnis von einer örtlichen Behörde. In Moskau ist für die Ausstellung des entsprechenden Dokumentes das Bürgermeisteramt zuständig. Die Regierungen der Städte rechtfertigen dieses Verfahren damit, dass eine Versammlung oder Demonstration Verkehrbehinderungen hervorrufen oder einfach nur die übrigen Einwohner stören könnten.

Die Anmeldung einer Straßenkundgebung muss Angaben über den Ort und die Zahl der Teilnehmer beinhalten. Wenn sich mehr Demonstranten als geplant zusammenfinden, müssen die Veranstalter mit einer Ordnungsstrafe rechnen - allerdings in lediglich symbolischer Höhe. Dieser Fall trat am 5. Dezember ein, als sich zur ersten Protestveranstaltung gegen die Wahlergebnisse auf dem Tschistoprudny-Boulevard statt der dreihundert angemeldeten etwa acht Tausend Protestierende versammelten. Für diese Überschreitung der angemeldeten Zahl wurde den Veranstaltern eine symbolische Ordnungsstrafe in Höhe von 1000 Rubel verpasst.

Die Wahl des Ortes für eine Kundgebung bietet seit je Anlass für Konflikte zwischen Stadtregierung und Veranstaltern einer Demonstration. Der Moskauer Bürgermeister kann einen beantragten Ort ohne weiteres ablehnen und stattdessen einen anderen vorschlagen – in der Regel einen vom Stadtzentrum und der öffentlichen Wahrnehmung weiter entfernten. Diesem Manöver widersetzt sich die außerparlamentarische Opposition oft unter Hinweis auf die garantierte Versammlungsfreiheit. Gegen solche nicht genehmigten Protestaktionen geht die Polizei radikal vor, wie das Beispiel der Demonstrationen Oppositioneller am Triumph-Platz in Moskau zeigt. Wer sich bei der Auflösung einer solchen Versammlung der Polizeigewalt widersetzt, wird festgenommen und strafrechtlich verfolgt. Das Strafmaß beträgt entsprechend einem richterlichen Beschluss bis zu 1000 Rubel oder ein Arrest bis zu 15 Tagen. 

Tatsächlich können auch zufällig anwesende Passanten in solcher Weise betraft werden. Dazu kam es während der Protestaktion auf dem Tschistoprudny-Boulevard am 5. Dezember. Berichten zufolge hatte damals irgendjemand den Teilnehmern der Versammlung vorgeschlagen, zum Gebäude des Zentralen Wahlkomitees zu gehen. Dafür musste die Polizeikette, die das Sondereinsatzkommando zu Sicherheitszwecken errichtet hatte, durchbrochen werden. Die Polizei nahm darauf alle der Reihe nach fest. Von den Festnahmen betroffen war auch der mehrfach preisgekrönte Pianist Fedor Amirow – er kam gerade von einem Konzert und geriet zufällig in die Menge der Demonstranten. Vier Tage verbrachte er unter Arrest – die Gerichte waren nicht imstande, die vielen Festnahmen schneller zu behandeln. Als sich die musikalische Öffentlichkeit in den Vorgang einmischte, wurde er freigelassen. Nach einer der Protestaktionen im Herbst fand sich sogar ein sechsjähriger Junge in Polizeigewahrsam wieder.

Unter den Festgenommenen sind zuweilen auch Journalisten, die für die betreffende Veranstaltung akkreditiert sind. In der Regel werden sie bald darauf mit Entschuldigung wieder auf freien Fuß gesetzt. Den aktiven Teilnehmern an den Protestaktionen wird meist Widerstand gegen die Festnahme zur Last gelegt. Aufgrund dieser Anschuldigung hat die Polzei das Recht, Leute bis zu 48 Stunden festzunehmen. Danach muss die Sache vor Gericht gebracht werden.

Nach dem geltenden Recht stehen einem Festgenommenen in einer Zelle mindestens zwei Quadaratmeter zu. Bei einer Verweildauer von über drei Stunden in nächtlichem Polzeigewahrsam müssen ein Schlafplatz, Essen und Getränke bereitgestellt werden.

Gegen diese Vorschriften werden allerdings, wie Zeugen zu berichten wissen, immer wieder verstoßen. An den Tagen der Protestveranstaltungen sind die für solchen Zulauf nicht ausgestatteten Polizeireviere vollkommen überfüllt. Viele festgenommene Demonstranten wurden stundenlang durch Moskau gefahren, bis man einen Polzeiabschnitt mit freien Kapazitäten gefunden hatte.

Auf der genehmigten Demonstration am 10. Dezember erschienen die Leute vorbereitet auf den Fall ihrer Festnahme. Bis zum letzten Augenblick nämlich betraf die Genehmigung nur 300 Personen. Aus der Mitte der Gesellschaft und von Seiten zivilgesellschaftlicher Aktivisten wurden im Vorfeld über das Internet Empfehlungen verbreitet, wie man sich auf der Demonstration verhalten solle, wohin man sich mit Problemen wenden und wie man anderen helfen könne. Man klärte die Teilnehmer darüber auf, wer an welchem Ort sein wird, und legte Informationszentren fest, man tat also alles für die wohl wichtigste Sache in diesem Moment, die Sicherheit der Menschen. Für die Veranstaltung wurden auch Beobachter gesellschaftlicher Organisationen mobilisiert.

Die Regierung bereitete sich ebenfalls vor. Die Proteste am 10. Dezember wurden von etwa 50.000 Angehörigen der Polizei und Soldaten der inneren Truppen bewacht. Das Ausbleiben von Ausschreitungen und Festnahmen erklären viele einerseits damit, dass die Polzei die friedliche Gesinnung der Demonstrierenden richtig erkannt hat. Zum anderen verhält sich die Polizei gegenüber Zehntausenden normaler protestierender Bürger umsichtiger als gegenüber einem Häufchen von Berufsdemonstranten. Zudem erklärten einige die Absperrung sichernde Polizisten, sie glaubten nicht an eine ehrliche Auszählung der Wahlergebnisse und teilten in gewisser Weise die Meinung der Protestierenden. Das wichtigste aber: Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew hatten begriffen, dass die Proteste nicht gekannte Ausmaße annehmen würden, und sich im Vorfeld für das Recht auf freie Meinungsäußerung stark gemacht.

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