Der Road-Movie zum Lesen

Das „wahre“ Amerika, das sich für die Autoren besonders an den Tankstellen in den menschenleeren Gegenden offenbart. Foto: Ilja Ilf

Das „wahre“ Amerika, das sich für die Autoren besonders an den Tankstellen in den menschenleeren Gegenden offenbart. Foto: Ilja Ilf

„Das eingeschossige Amerika“ ist jetzt zum ersten Mal in der deutschen Übersetzung erschienen. Ein begeisternder Reisebericht zweier sowjetischer Journalisten aus den 30er Jahren.

Der Schauplatz: Die Vereinigten Staaten von Amerika in den 1930er Jahren. Häuserschluchten in den Großstädten, im Kontrast die schier endlose Weite der Prärie. Die kleine einsame Tankstelle an der Kreuzung zweier Landstraßen, die ins Nichts zu führen scheinen, und die großartigen Paläste der Upper Class.

Das Szenario: Zwei unbedarfte Sowjetbürger, die ein ihnen gänzlich fremdes Land erkunden. Ein grauer Ford und eine vorbehaltsfreie Sichtweise auf das Neue, das Unbekannte. Staunend, schmunzelnd, kopfschüttelnd – aber stets herrlich subjektiv objektiv. Eindrücke geradezu mit den neugierigen Augen eines Kindes aufgesaugt.

Auf „Expedition" für die Prawda

In der Tat ist diese, 1937 erstmalig erschienene Reiseerzählung ein authentischer Augenzeugenbericht. Ein Reisetagebuch über eine lange Auftragsreise durch das weite Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die den beiden auf den zweiten Blick irgendwie aber doch begrenzt erschienen.

Auch wenn zu dieser Zeit der kalte Krieg noch längst nicht auf seinem Höhepunkt angekommen war, wurde der Klassenfeind zwar respektvoll, aber doch sehr kritisch von der Sowjetunion beobachtet. Im Wesentlichen war das gegenseitige Interesse der beiden Riesenländer noch von Neugierde geprägt.

Aus diesem Grund entsandte die Prawda zwei ihrer „Starreporter" über den großen Teich. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, die am 7. Oktober 1935 im Hafen von New York von Bord des luxuriösen Passagierschiffs „Normandie" gingen, waren auserkoren, die Vereinigten Staaten kritisch unter die Lupe nehmen.

Allerdings sollte der Prawda vorher eigentlich bekannt gewesen sein, wen sie da auf Amerika loslässt. Waren die beiden doch nicht nur erfolgreiche Autoren, sondern in ihrer Heimat auch gefeierte Satiriker, die keineswegs mit unterschwelliger Kritik am sozialistischen Alltag geizten. So mag es kaum verwundern, dass Ilf und Petrow, die beide kein Wort Englisch sprachen und auch nicht Auto fahren konnten, ihren Auftrag eher als Abenteuerreise sahen. Ihre ersten Eindrücke dieses fernen romantischen Landes in Übersee lesen sich dann auch ganz wie ein Entdeckerbericht im Stile eines Dr. Livingston.

Und sie beobachten! Jede noch so fremde Eigenart des american way of life wird humoresk und pfiffig seziert, um dem heimischen Leser das „echte", das „wahre" Amerika näherzubringen. Aber wo findet sich das wahre Amerika eigentlich? In den Straßenschluchten der Großstädte? Oder etwa in der Weite der Prärie? Weder noch, empfanden die beiden kauzigen Kultreporter. Denn, so ihr erstaunter Befund: Amerika ist eingeschossig.

So steht fortan diese „Eingeschossigkeit" als Sinnbild für ein Land, in dem sich alles nur um Geld und dessen Vermehrung dreht und Seele und Geist auf der Strecke bleiben. Auf Ilf und Petrow wirkten die Vereinigten Staaten schlichtweg eindimensional. Als ein oberflächliches Land voller paradoxer Widersprüchlichkeiten.

Zwar putzt ein freundlicher, stupide dreinblickender Mann an einer Tankstelle die Scheiben ihres Fords, ohne einen Cent dafür zu verlangen, da Komfort und Bequemlichkeit in Amerika eine Selbstverständlichkeit und kein Zeichen von Luxus seien, aber sie übersehen auch nicht die Kluft zwischen Reichtum und Armut.

Neugier, Scharfsicht und Ironie

Anders als in der Sowjetunion, scheint in Amerika alles viel einfacher zu sein. „Reich sein ist besser als arm sein. Und statt Zeit auf das Nachdenken über die Ursachen der Armut zu verschwenden, versucht der Amerikaner mit allen Mitteln, derweil eine Million zu verdienen", notieren sie mit unverhohlener Begeisterung.

Quasi als Besucher von einem anderen Stern trafen sich Ilja Ilf und Jewgeni Petrow mit Indianern und Farbigen, jungen Arbeitslosen und alten Kapitalisten, sowie Ernest Hemingway. Aber auch in das Büro von Henry Ford oder in das Landhaus von Upton Sinclair wurden sie eingeladen. Immer auf der Suche nach dem „American Dream".

„Was kann man über Amerika sagen, das gleichzeitig Angst macht und einen in Begeisterung versetzt? Was kann man sagen über ein Land des Reichtums, des Elends, der Talente und der Armut?", so das Fazit von Ilf und Petrow. Und sie waren erstaunt, dass die Amerikaner scheinbar überhaupt kein Interesse an der Sowjetunion hatten.

Die klassische Fotoreportage

Bereits zu Beginn ihrer Reise fiel ihnen etwas Grundlegendes an Amerika auf: „Wir hatten geplant, New York zu erforschen. Aber New York ist keine Stadt, in der sich die Leute langsam bewegten. Statt gemütlich zu gehen, rannten sie an uns vorbei."

„Wir wollten das wahre Amerika und die Amerikaner kennenlernen. Wie arbeiten sie und wie erholen sie sich? Wir wollten erfahren: Wie leben sie? Was hoffen sie? Was essen sie?" Herausgekommen ist ein facettenreiches Sammelsurium an Eindrücken, das sie während ihrer 10-wöchigen Reise festgehalten haben

Ganz im Sinne der klassischen Fotoreportage unterstreichen die Fotos, die Ilf mit seiner Leica auf der Tour von Ost nach West und wieder zurück geschossen hat, den klugen und witzigen Text über die Erkundung der „Neuen Welt".

Endlich ist diese fantastische Reiseerzählung auch ins Deutsche übersetzt worden. Rechtzeitig zu Weihnachten veröffentlichte der Frankfurter Eichborn Verlag das zweibändige Werk in einem Schuber. Ergänzt durch Briefe der Verfasser, sowie der ersten Reaktionen sowjetischer Leser aus dem Jahre 1937, deren Sicht uns heute verblüfft.

Aber auf eine Frage fanden auch Ilja Ilf und Jewgeni Petrow keine rechte Antwort: „Warum sind die Schauspielerinnen in amerikanischen Historienfilmen immer nach der neuesten Mode frisiert und warum sind die meisten Hollywoodfilme gar so erbärmlich?"

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Russland-Aktuell.

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