Washington will nicht hören. Der Plan B.

Bild: Natalya Mikhailenko

Bild: Natalya Mikhailenko

Es hilft nicht, sich auf die propagandistische Fassade der Erklärungen Präsident Medwedews vom 23. November 2011 zu verlassen und dabei ihre wesentlichen Punkte zu übersehen. Man sollte seine Aufmerksamkeit auf die konkreten Probleme der nationalen Sicherheit Russlands richten, die – davon zeugt die Geschichte des Landes – oftmals die Innenpolitik beeinflussten.

Etappen auf dem großen Weg

Der Hauptgrund für die Hektik bei der Entwicklung des amerikanischen Raketenabwehrschirms (Anti-Ballistic Missiles, ABM) ist der Anspruch Washingtons, als einzige verbliebene Supermacht der Erde die territoriale Integrität und totale Sicherheit des kontinentalen Territoriums der Vereinigten Staaten zu garantieren. Diese Absicht liegt dem amerikanischen strategischen Denken sowie der nationalen Sicherheitspolitik der USA zugrunde.

Der Stein des Anstoßes

Warum Russland grundsätzlich gegen das Programm eines Raketenschutzschildes ist

Gewiss, auf dem jetzigen technologischen und wirtschaftlichen Niveau ist es völlig unrealistisch, den Schutz vor einem massiven Nuklearraketenangriff zu garantieren. Deshalb gehen die USA den Weg, diesen Verteidigungsanspruch nach und nach zu realisieren, indem sie zunächst ein „begrenztes“ ABM-System zur Verhinderung territorial-regional begrenzter Raketenschläge von Seiten von „Verbrecherstaaten“ entwickeln. Doch

jede „begrenzte“ Raketenabwehr kann nur eine vorübergehende Etappe auf dem Weg zu einem umfassenden ABM-System sein. Das soll dann Nuklearraketenangriffe jeglicher Art auf die USA rechtzeitig und möglichst schon weit vor dem nordamerikanischen Kontinent zurückzuschlagen. Bisher verzichten die Vereinigten Staaten auf einen solchen Schutzschild. Nicht etwa, weil sie ihn sich nicht gewünscht hätten, sondern schlicht deshalb, weil sie ihn gegenwärtig noch nicht realisieren konnten.

Folglich dienen regional „begrenzte“ Varianten des amerikanischen ABM-Systems (das sich vorläufig in der Tat gegen die Raketenbewaffnung Irans oder Nordkoreas richtet) im Grunde „Ausbildungs- und Trainings-“ sowie „experimentellen“ Zwecken. Damit soll die technologische Basis für die künftige Ausarbeitung einer groß angelegten Raketenabwehr für das nationale Territorium der USA gelegt werden.

Mithin ist das letztliche Ziel Washingtons, was die Entwicklung von ABM-Systemen angeht, nicht zu übersehen. Doch, wie der frühere amerikanische Außenminister Henry Kissinger treffend anmerkte, „bedeutet absolute Sicherheit für den einen dasselbe wie absolute Unsicherheit für alle anderen“. Genau aus diesem Gleichnis leitet Russland seine Position zu sämtlichen Spielarten des amerikanischen Raketenschilds ab.

Allerdings lässt sich nicht verhehlen, dass Russland nicht wirklich in der Lage ist, die Verwirklichung transatlantischer ABM-Programme zu stoppen oder auch nur zu verzögern. In der amerikanischen Gesellschaft und im Establishment der USA herrscht ein permanenter Konsens darüber, dass ein maximaler (und im Idealfall absoluter) Schutz des Territoriums der Vereinigten Staaten vor jeglichem Raketenangriff von außen geschaffen werden müsse. Dazu zählt man auch der Schutz vor einem möglichen Atomschlag durch die strategischen Nuklearstreitkräfte Russlands oder Chinas-. Moskau kann dem amerikanischen Glauben, absolute territoriale Unverletzlichkeit zu erreichen, nichts entgegensetzen. Denken wir daran, dass Michail Gorbatschow dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan 1986 in Reykjavik sogar die vollständige Nuklearabrüstung in Aussicht gestellt hatte für den Fall, dass die USA auf ihre Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) verzichten, und  - eine durchaus logische Absage erhielt: Denn die Idee des ABM-Raketenschilds ist so eng mit der Idee einer globalen amerikanischen Hegemonie verknüpft, dass sie die fundamentalen Werte der Außen- und Verteidigungspolitik der Vereinigten Staaten berührt.

Weshalb jegliche Verhandlungen mit Washington über das ABM-Programm ganz und gar aussichtslos sind, davon konnte sich die russische Führung in den letzten Jahren etliche Male überzeugen. Alle Bemühungen, die Vereinigten Staaten zu einschränkenden Vereinbarungen zu bewegen, haben sich als vergeblich erwiesen. Im Wesentlichen wurde durch die vielen wiederholten Kontakte mit den Amerikanern nur das „Fernziel“ der Washingtoner ABM-Politik bestätigt. Das berührt aber langfristig die Grundlagen der Nuklearkontrolle und bedroht damit die nationale Sicherheit Russlands.

Das politische Ausweichmanöver - der Plan B

Unter diesen Bedingungen stand die russische Führung vor einer klaren Alternative: Entweder auch in Zukunft weitere Versuche zur Aufnahme von ABM-Verhandlungen mit den Amerikanern unternehmen, die wie bisher alle zum Scheitern verurteilt wären, oder ein politisches Ausweichmanöver – den Plan B – zu fahren. Als gewiefte Staatsmänner scheinen Putin und Medwedew von Anfang an einen solchen Plan gehabt zu haben. Darauf weist die Rede des Präsidenten der Russischen Föderation am 23. November 2011 hin. Selbstverständlich wurde dafür ein innenpolitischer Anlass - die Nachfolge Medwedews im Amt des Präsidenten - gewählt, doch den Kern ging es um Plan B.

Es verwundert keineswegs, dass sämtliche von Medwedew angekündigten Maßnahmen für sich genommen nicht neu sind oder bereits ausgeführt werden. Der russische Plan B wurde nämlich über einen erheblichen Zeitraum hinweg entwickelt. Seit langem finden Entwicklungen und Tests von Nuklearsprengköpfen statt ebenso wie Starts der dazugehörigen neuen oder modifizierten Flugkörper (zum Beispiel Jars, Liner und Avantgarde). Ein Teil der Interkontinentalraketen mit Nuklearsprengkopf (Intercontinental Ballistic Missiles, ICBMs) vom Typ RS-24 (Jars) wurde bereits im Jahr 2010 in den Bestand der russischen Raketentruppen aufgenommen. Das Netz moderner Langstrecken-Radarstationen zur Frühwarnung befindet sich im Aufbau; eine der Stationen liegt in Kaliningrad. Im Aufbau ist ein Verfahren zur "Zerstörung der Informations- und Lenkungsmittel (Command, Control, Battle Management and Communications, C2BMC der Missile Defense Agency) des ABM-Systems". 2010 wurden Tests der luftgestützten Laserwaffe A-60 im Rahmen des Sokol-Eschelon-Programms zur Vernichtung von US-Frühwarnsatelliten wiederaufgenommen. Die planmäßige Austausch der Raketensysteme Totschka-U durch neue Modelle vom Typ Iskander-M hat in den Raketenbrigaden der Russischen Armee bereits begonnen, und es steht fest, dass die Umrüstung und Modernisierung der Raketentruppen auch die 152. Raketenbrigade in Kaliningrad umfasst.

Die deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben bis 2020 macht es möglich, viele dieser Programme entweder beträchtlich zu beschleunigen oder sie aus dem Experimentierstadium in die Serienentwicklung und Produktion zu bringen. Angesichts dieser Faktoren kann Medwedew ohne weiteres Plan B umsetzen. Die nur schrittweise vorankommende Entwicklung der amerikanischen Raketenabwehr bietet Russland Zeit und Gelegenheit, das von Medwedew angekündigte Programm in die Tat umzusetzen.

Ruslan Puchow ist Militäranalytiker und Direktor des Zentrums für Strategie- und Technologie-Analyse, Moskau

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