Nach der Protestdemonstration am 10. Dezember – dem Tag, an dem die russische Zivilgesellschaft erwachte, gründete man auch das Organisationskomitee der nächsten geplanten Protestaktion. Schon am nächsten Tag konnte man Live im Internet ihre erste Sitzung beobachten: Oppositionspolitiker, Journalisten, Schriftsteller, Musiker, trafen sich in einer der Moskauer Redaktionen, um die kommende Kundgebung inhaltsreich und transparent vorzubereiten. Das sollte allen, die sich bisher nicht auf die Straße getraute haben, Mut geben, diesen Schritt zu gehen. Bis zuletzt war man unsicher, ob am Sacharow-Prospekt tatsächlich der Erfolg vom 10. Dezember wiederholt werden kann. Doch sehr schnell wurde klar: aus den gestern apolitischen Otto Normalverbrauchern sind tatsächlich politisch aktive Bürger geworden. Sie wollen keine Revolution, aber Veränderungen. Und die Zukunft ihres Landes mitbestimmen.
Wer sind die Gesichter der neuen Zivilgesellschaft Russlands und was verlangen sie von der Staatsmacht fragte Russland HEUTE die Demonstranten am Sacharow-Prospekt in Moskau. Fotos: Jan Lieske
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Foto: Jan Lieske
Maria (31) aus Moskau, arbeitet im Importhandel. Ehemann Dmitrij (33) aus Magadan, arbeitet im Antiquitätenhandel
„Die erste Demonstration unseres Lebens erlebten wir am 10. Dezember auf dem Bolotnaja Platz in Moskau. Uns haben diese dreisten Wahlfälschungen der „Einiges Russland“ Partei dazu bewegt auf die Straße zu gehen – das war eine dreiste Tat zu viel. Wir werden auch weiterhin demonstrieren gehen, bis die Staatsmacht bereit dazu ist, einen Dialog mit der Bevölkerung zu führen. Unserer Meinung nach müssen die Gouverneurswahlen wieder eingeführt werden. Anfangen sollte man mit der Bürgermeisterwahl in Moskau. Außerdem muss das Gerichtssystem dringend reformiert werden. Gesetze müssen für alle gelten und von allen befolgt werden. Wir Bürger müssen jetzt zusammenhalten, erst dann gibt es Hoffnung auf Veränderungen. Und zwar nicht nur in Moskau, sondern auch in den Regionen Russlands. Auf jeden Fall sind wir bereit dafür zu kämpfen.“
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Foto: Jan Lieske
Igor (31) aus Moskau, Pressesprecher.
„Ich bin das zweite Mal auf einer Demo. Davor war ich am Bolotnaja-Platz am 10. Dezember. Ich bin der Meinung, dass diese Wahlen nicht legitim sind. Es müssen Neuwahlen stattfinden, an denen viele verschiedene Parteien teilnehmen können. Wenn keine Reaktion seitens der Regierung passieren wird, werde ich weiterhin auf Kundgebungen gehen - mit meiner Familie und Freunden. Heute habe ich sehr viele meiner Freunde getroffen, das hat mich sehr gefreut. Für die Zukunft meines Landes wünsche ich mir, dass Parteien einfacher registriert werden können. Bei diesen Parlamentswahlen ging es in erster Linie darum das „Einiges Russland“ nicht zu wählen. Aber das ist auch nicht der richtige Weg. Es muss eine Parteienvielfalt geben, damit wir ,Bürger, tatsächlich eine Wahl haben. So wie jetzt kann es nicht weitergehen.“
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Foto: Jan Lieske
Alexander (34) aus Rostow-am-Don, Ingenieur.
„Ich bin extra für diese Demonstration aus Rostow-am-Don für einen Tag nach Moskau gekommen. Ich war am 10.Dezember in meiner Stadt auch schon demonstrieren. Ich fühle mich verantwortlich für meine Heimat, deswegen bin ich heute hier. Mich empört die Wahlfälschung und ich bin der Meinung, dass man diese Menschen in der Macht endlich austauschen muss. Wir haben seit den Siebzigern eine politische Stagnation, und das „Einiges Russland“ und unsere heutige politische Elite ist die Folge davon. Aber hier, in der Menschenmenge, habe ich ganz andere Gesichter gesehen, eine neue Generation, die die Zukunft dieses Landes in ihre Hand nehmen wird. Die Zukunft unseres Staates ist in unseren Händen. Ich bin froh heute hier gewesen zu sein.“
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Foto: Jan Lieske
Sergej (62) aus Moskau, Rentner.
„Ich war schon auf dem Bolotnaja Platz, daher habe ich auch das weiße Band. Mich hat diese Willkür der Staatsmacht bei den Parlamentswahlen empört. Unter Boris Jelzin war auch nicht alles lupenrein, aber da hatte man noch ein Schamgefühl. Wahlfälschungen gab es, aber „im Dunkeln“. Heute werden schamlos Stimmzettel für „Einiges Russland“ in die Boxen geschmissen, die echten Wahlzettel zerrissen. Und alle wissen davon. Deswegen gehe ich jetzt demonstrieren. Und ich finde es gut, dass so viele verschiedene Menschen hier sind, die sich sonst wahrscheinlich nie an einem Ort treffen würden. Solange wir zusammenhalten, glaube ich an eine Zukunft für Russland.“
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Foto: Jan Lieske
Julia (30) aus Moskau, im Verlagsrecht tätig.
„Ich bin das zweite Mal in meinem Leben auf einer Demonstration. Das erste Mal war natürlich am 10.Dezember. Ich möchte der Staatsmacht zeigen, dass die heutigen Regierungsmethoden nicht mehr funktionieren. Wir brauchen Veränderungen. Hier auf dieser Protestkundgebung haben sich Menschen versammelt, die alle sehr angenehme Gesichter haben, ein Leuchten in den Augen. Niemand will eine Revolution, sondern nur von der Regierung gehört werden. Friedlich. Damit unser Land eine Zukunft hat, muss man in erster Linie Journalisten ihre Arbeit machen lassen, sie nicht einschränken, damit sie beispielsweise über Korruptionsfälle berichten können. Man muss Menschen, wie den Blogger Alexej Navalny nicht darin behindern Korruptionsfälle aufzudecken. Das sind Menschen, die man nicht aus dem Weg räumen muss, sonder in Ruhe ihre Arbeit machen lassen muss.“
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Foto: Jan Lieske
Nina Semenowna (89) aus Moskau, Kriegsveteranin.
„Ich habe einen sehr positiven Eindruck von der Kundgebung heute, und auch auf dem Bolotnaja-Platz war ich. Ich habe das Gefühl, dass alle, auch die Polizei - denn die ist äußerst höfflich - die Nase voll hat von diesem System. Ich bin gegen diese Putin-Bande, die die Staatsmacht an sich gerissen hat und sich auf Kosten der Bevölkerung amüsiert. Die Jugend hat keine Zukunft und keine Hoffnung auf eine Zukunft, das ist doch kein Leben – sie arbeiten wie verrückt und verdienen dabei kaum. Moskau wurde noch nicht einmal von Hitler besetzt, aber Putin und seine Anhänger haben es geschafft den Kreml zu besetzten. Diese verbrecherische Staatsmacht hat mir alles genommen!“
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Foto: Jan Lieske
Maria (27) aus Moskau, Informationsabteilungsleiterin.
„Meine erste Kundgebung war am 10.Dezember, jetzt bin ich hier am Sacharow-Prospekt und bereue es kein bisschen. Denn ich bin der Meinung, dass man die Art und Weise, wie die Staatsmacht mit uns Bürgern umgeht, nicht mehr ertragen kann. Ich bin müde davon! Ich sehe alte Menschen, die auf der Straße sitzen und betteln, unsere Eltern, die jetzt ins Rentenalter kommen – mit einer Rente von 11.000 Rubeln(etwa 270 Euro), Schulen, die korrupt sind, Kindergärten, die ebenso korrupt sind – und dann diese Wahlen, das war einfach zu viel! Ich werde weiter auf Demonstrationen gehen, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich sehe, dass auch die Polizei jetzt auf unserer Seite ist. Ich habe das Gefühl, dass eine Revolution in den Köpfen der Menschen und Köpfen der Polizei passiert ist. Und das freut mich. Wir alle wollen Veränderungen.“
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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