Kudrin – der neue starke Mann?

Alexej Kudrin war bei den Protesten am Samstag auch dabei. Foto: Reuters

Alexej Kudrin war bei den Protesten am Samstag auch dabei. Foto: Reuters

Wie die Tageszeitung Kommersant am Weihnachtsabend berichtete, plant Ex-Finanzminister Alexej Kudrin die Gründung einer neuen Partei. Am 24. Dezember hatte Kudrin auf einer großen Protestkundgebung in Moskau die Forderung nach einer Wiederholung der Parlamentswahlen unterstützt. Gleichzeitig rief er die Demonstranten dazu auf, eine „Plattform für den Dialog“ mit der Staatsmacht zu bilden. Experten gehen davon aus, dass die russische Elite aktiv einen Ausweg aus der Pattsituation sucht, in der sie sich seit dem 4. Dezember befindet.

Von der Absicht Kudrins, Gespräche zur Gründung einer neuen Partei zu führen, erfuhr „Kommersant“ von Boris Nadeschdin. Dieser ist aus der Partei „Rechte Sache“ ausgetreten, um am neuen Projekt mitzuwirken. Die neue Partei soll laut Nadeschdin auf der Basis der einstigen „Union der rechten Kräfte“ aufgebaut werden. „Ich führe keine Verhandlungen, jedoch Beratungsgespräche mit einem breiten Spektrum von Personen. Momentan gibt es noch keinerlei Vereinbarungen“, ließ Kudrin verlauten.

Während seiner Zeit als Finanzminister war Kudrin stets darum bemüht, zu den Parteistrukturen Abstand zu halten. Mit „Einiges Russland“ sogar hatte er mehrmals Konflikte. Kein Parteimitglied zu sein, hinderte ihn aber keineswegs daran, sich zu politischen Fragen zu äußern. Auf dem Wirtschaftsforum in Krasnojarsk im Jahre 2011 hatte Kudrin zur damals noch bevorstehenden Parlamentswahlen-Kampagne gesagt, dass „die Gesellschaft die Wahlen als Instrument zur Kontrolle des Staates verstehen müsse“. Die Wahlen müssten „auf gerechte und ehrliche Weise abgehalten werden, damit alle führenden politischen Kräfte darin vertreten sein könnten“.

Bei seinem Auftritt auf der jüngsten Samstagsdemonstration rief Kudrin die Demonstranten dazu auf, unter anderem mit der Staatsmacht, eine „Plattform für den Dialog zu bilden“. „Ansonsten“, so Kudrin, „steht uns eine Revolution bevor und wir verlieren die Chance, die wir heute noch ergreifen können, nämlich eine friedliche Transformation. Diese sei notwendig, damit sich eine neue Staatsführung, die das nötige Vertrauen genießt, etablieren könne. 

Es ist bezeichnend, dass Alexej Kudrin, den Wladimir Putin einen „Freund“ nennt, am 24. Dezember ausgerechnet zu einer Demonstration kam, die unter der Losung „Russland ohne Putin!“ stand. Nach Meinung zahlreicher Experten, zeugen das Auftauchen eines „Freundes“ an solch einer Demonstration und dessen Bereitschaft, eine neue Partei zu gründen, davon, dass die Elite aktiv nach einem Ausweg aus der Pattsituation sucht, in der sie sich seit dem 4. Dezember befindet.

De facto hat sich Alexej Kudrin als Mittelsmann im Dialog zwischen den jetzigen Machthabern und jenen, die sich den Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition anschließen, angeboten, meint Igor Jürgens, Direktor des Instituts für zeitgenössische Entwicklung. Indem Kudrin die Revolution ablehnt, versucht er, jene, die außerhalb des jetzigen Machtsystems stehen, zur Evolution zu ermuntern. Ein wichtiger Punkt in Kudrins Evolutionsvorschlägen sei eine „Zusammenarbeit mit jenen Vertretern der Macht, die progressive Pragmatiker sind“, meint Igor Jürgens. Dazu zählt Jürgens jenen Teil der Elite, der eine Modernisierung anstrebt und deshalb bis zum September 2011 auf eine zweite Amtszeit von Präsident Medwedew gehofft hatte.

Doch ein klares Konzept für die bevorstehenden evolutionären Veränderungen in den nächsten Monaten hat Alexej Kudrin noch nicht angeboten. Auf der Kundgebung hat er zwar sowohl die Forderung nach einem Rücktritt des Chefs der Wahlkommission Wladimir Tschurow als auch die Idee vorgezogener Dumawahlen innerhalb des nächsten halben Jahres mit neuen Regeln und neuen Parteien unterstützt. Doch hat er es versäumt, irgendetwas darüber zu sagen, wie mit den Präsidentenwahlen umzugehen sei. Diese sind bereits festgelegt, und als deren zweifelsfreier Favorit gilt Wladimir Putin.

Nach Auffassung des Politologen Boris Makarenko gehen die Menschen nur vermeintlich wegen der Dumawahlen vom 4. Dezember auf die Straße. Tatsächlich sei die geplante dritte Amtszeit Wladimir Putins der eigentliche Gegenstand der Proteste. Kudrins Aufruf zum Dialog wertet Makarenko als taktischen Schachzug der aktuellen Machthaber und fügt hinzu, dass es strategisch gesehen derzeit keine wirklichen Alternativen dazu gebe.

Olga Kryschtanowskaja, Leiterin des Zentrums zum Studium der Eliten am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, sieht hingegen mehrere Varianten. Die Zielgruppe von Kudrins Ansatz seien die zur Machtelite gehörenden Liberalen. Doch gerade in diesen Machtzirkeln seien auch Befürworter eines harten Führungskurses vertreten, unterstreicht Kryschtanowskaja. Beim „harten“ Szenario würden „Dmitrij Medwedew abdanken und die Anführer der außerparlamentarischen Opposition neutralisiert. Die Übriggebliebenen würden den „Segen der Demokratie“ komplett für sich beanspruchen können. Innerhalb der Elite gebe es jedoch auch Vertreter, die mit der Trägheit der Gesellschaft rechneten und darauf hoffen, dass sich über die Weihnachtsferien „die Wogen glätten, Tschurow auf seinem Posten bleibt und die Präsidentschaftswahlen am 4. März reibungslos über die Bühne gehen“.

Noch, so Kryschtanowskaja, übe Kudrins Liberalen-Variante keinen Einfluss auf die Präsidentschaftswahlen aus. Sie lasse folglich auch keine Prognose zu, wie die Gesellschaft reagiert, falls die Wahlen am 4. März nach dem „gewohnten Schema“ ablaufen. Die „harte“ Variante, meint die Wissenschaftlerin,  würde jenen, die von den „unerwarteten demokratischen Freiräumen“ profitieren, in der Gesellschaft kaum mehr Legitimität verschaffen. Und ein angestrebtes „Trägheitsszenario“ würde höchstwahrscheinlich in einer „orangenen“ Revolution“ enden. Die Elite, so schlussfolgert Kryschtanowskaja, sei deshalb gefordert und müsse ungewöhnliche Auswege aus der Situation finden. Jeder „gewöhnliche“ Lösungsansatz würde sie nur unter weiteren Zugzwang bringen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitung Kommersant.

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