Unerkannt durch Freundesland

Abend am Baikal: Uwe Wirthwein und seine Freundin übernachten auf dem Eis. Foto: aus dem persönlichen Archiv

Abend am Baikal: Uwe Wirthwein und seine Freundin übernachten auf dem Eis. Foto: aus dem persönlichen Archiv

Von wegen sozialistische Brudervölker: Vor der Wende durften DDR-Bürger nicht auf eigene Faust durch die Sowjet-union reisen. Wer es trotzdem tat, erlebte Abenteuer.

Die Idee stammte aus einem DDR-Comic und war ebenso reizvoll wie waghalsig: Fix und Fax, zwei freche Mäuse, basteln sich darin aus Langeweile einen Segelschlitten und haben einen Heidenspaß, damit über´s Eis zu brausen. Als Kind liebte Uwe Wirthwein diese Geschichte. Als 27-Jähriger wollte er sie selbst erleben. Er überredete Freunde, das abenteuerliche Gefährt nachzubauen und auszuprobieren – und zwar auf dem Baikalsee, dem fernen Sehnsuchtsort, an den Ostdeutsche auf eigene Faust eigentlich gar nicht hinfahren durften.

S o kam es, dass im Sommer 1988 fünf junge Männer aus Dresden Nylonballen über die Grenze schmuggelten, sich mit 36 Kilogramm schweren Rucksäcken bis nach Sibirien durchschlugen, dort Bäume fällten und schließlich einen riesigen Segler mit fünf Meter langem Mast aufs Eis des Baikal setzten. Sie reisten „Unerkannt durch Freundesland“ (UdF) und waren damit Teil einer Bewegung, von der bis zum Ende der DDR nur Eingeweihte wussten.

Hunderte junger Leute entflohen der räumlichen Enge ihres Landes in den 70er- und 80er-Jahren durch Schlupflöcher im bürokratischen System. Sie erklommen im Kaukasus schroffe Gipfel, erkundeten märchenhaft fremde Republiken in Zentralasien, streiften wochenlang durch sibirische Weiten – irgendwie illegal, aber von überforderten Behörden oft nur halbherzig aufgehalten. Reisen in die Sowjetunion waren damals offiziellen Gruppen vorbehalten und für den Individualtourismus tabu. Doch seit dem Prager Frühling 1968 kam ein Transitvisum zur Anwendung, das eine Durchreise durch die UdSSR erlaubte, um die unruhige Tschechoslowakei zu umgehen. Nie wieder abgeschafft, wurde es für viele junge Menschen zur Eintrittskarte in ein Land, das sich verheißungsvoll über elf Zeitzonen ausdehnte. Wer es schaffte, nach der Einreise „von der offiziellen Route abzuhauen und ins Landesinnere zu gelangen, konnte sich danach relativ frei bewegen“, erinnert sich UdF´ler Frank Böttcher.

Fotos: aus dem persönlichen Archiv

Zusammen mit der Dokumentarfilmerin Conny Klauß hat der Berliner Verleger ein wunderbares Buch herausgegeben, das die 
Erinnerungen der waghalsigen Reisenden versammelt. Halb 
Reisetagebuch, halb Geschichtsdokument, zeigt es mit Liebe zum Detail und zahlreichen Fotos, was herauskam, wenn DDR-Bürger die Parole von der deutsch-sowjetischen Freundschaft wörtlich nahmen. Nahezu einhellig berichten sie von überschwänglicher Herzlichkeit, von offenen Armen, mit denen sie allerorts aufgenommen wurden. Sie erzählen von Milizionären, die in Verhören ratlose Fragen stellten und anschließend Fahrkarten in den nächsten Verwaltungsbezirk organisierten, um die unliebsamen Wanderer möglichst schnell loszuwerden. Und sie brachten Fotos mit, die ganz und gar nicht zum Bild von der UdSSR als kommunistischem Paradies passten: zerfallene Wohnhäuser, bettelnde Rentner, zusammengeflickte Traktoren.

Ein Großteil der UdF-Reisenden waren Bergsteiger, die sich mit Ausrüstung der „Marke Eigenbau“ auf den Weg ins Gebirge machten. Sie schnitten sich Isomatten aus Fußboden-Isolierstoff zurecht, nähten Schlafsäcke aus westlichen Katalogen nach und verfassten die Delegierungsschreiben für ihre Expeditionen selbst. Andere interessierten sich weniger für die Fünftausender als für die Menschen jenseits der Grenze. Ekkehard Maaß, der zur Gitarre Lieder von Wolf Biermann und Bulat Okudschawa sang, 
besuchte auf seinen ausgedehnten Fahrten häufig Dissidenten. In Tiflis ließ er sich von Regisseur Sergei Paradschanow bewirten, in Kirgisien traf er Tschingis Aitmatow, der ihn als offiziell linientreuer Schriftsteller mit muslimischen Gebeten überraschte. Der Thüringer Pfarrer Gernot Friedrich wiederum fuhr etliche Male in die UdSSR, um versteckte deutsche Gemeinden mit Bibeln zu versorgen. Außer der Schmuggelware hatte er meist nur ein Stück Seife und zwei Hemden in einem Stoffbeutel dabei.

Eines eint diese Menschen, 
so unterschiedlich ihre Motive und Interessen auch gewesen sein mögen: Sie haben (Reise-)Freiheit nicht gefordert, sondern sie sich 
einfach genommen – und gerade deswegen sind sie vielleicht so weit gekommen.

Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich, Lukas-Verlag 2011. 444 Seiten, 24,90 Euro

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