Grigori Tschchartischwili. Foto: Corbis
Im Jahre 1970 wurden in einer Moskauer Schule im Geografie-Unterricht die Länder der Erde unter den Schülern „verteilt“. Die Aufgabe dazu lautete schlicht und ergreifend: Jeder sollte zu „seinem“ Staat Zeitungsausschnitte sammeln. Einer der Schüler bekam Tunis, Ekuador und Japan zugewiesen. Tunis und Ekuador fanden in den sowjetischen Zeitungen hin und wieder Erwähnung, hauptsächlich ging es dabei um den heldenhaften Kampf der dortigen Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Ausbeuter. Über die Lage in Japan schwieg die Sowjetpresse dagegen, bis eines Tages plötzlich der versuchte Staatsstreich eines japanischen Schriftstellers gemeldet wurde. Von da an begann sich Grigori Tschchartischwili immer mehr für Nippon zu interessieren. Jedenfalls erklärt der Autor den Ursprung seiner Japan-Faszination gern so.
Seither durchlebte Tschchartischwili mehrere tiefgreifende Metamorphosen, in denen er sich radikal veränderte. Anfangs ähnelte sein Lebensweg der typischen Biografie eines sowjetischen Intelligenzlers geisteswissenschaftlicher Prägung: Spezialschule mit erweitertem EnglischUnterricht; Studium an der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau (konkret: am Institut für Asien- und Afrika-Kunde); Tätigkeit als Übersetzer und Dolmetscher. Tschchartischwili übersetzte aus dem Japanischen und Englischen in das Russische, größte Bekanntheit erlangten seine Übertragungen der Werke Yukio Mishimas, jenes Schriftstellers also, dessen erfolgloser Staatsstreichversuch den Schüler Grigori seinerzeit so nachhaltig beeindruckt hatte. Dank des Engagements Grigori Tschchartischwilis und anderer Japanologen brach in den 1980er und 1990er Jahren in Russland eine wahre Japanomanie-Welle aus. Und da auf einmal …
„Ich wollte mein Leben ändern. Irgendwie spürte ich, dass mir alles Bisherige Überdruss bereitete … Ich musste eine Aufgabe finden, die meiner inneren Befindlichkeit in höherem Maße entsprach. Beim Übersetzen hatte ich einfach mein Limit erreicht. Und begriffen, dass ich dieses Limit nicht mehr durchbrechen, sondern die nächsten 50 Jahre auf ein und demselben Niveau weiterarbeiten würde“, äußerte Tschchartischwili in einem Interview für die Zeitschrift „Russki reportjor“. Ihr Leben ändern wollen viele, den Traum von einem anderen Leben in die Tat umzusetzen, gelingt hingegen nur wenigen. Grigori Tschchartischwili schaffte es, und aus dem bekannten Übersetzer wurde ein noch bekannterer Prosa-Autor.
1998 begann er historische Romane zu schreiben – unter dem Pseudonym B. Akunin. Hinter dieser verkürzten Namensform steckte Absicht, sollte die Initiale des Vornamens doch mit dem Familiennamen zusammen als „Bakunin“ gelesen werden, in Anspielung auf den berühmten russischen Anarchisten Michail Bakunin. Doch die Leser machten sich ihren eigenen Reim auf das „B.“ und tauften den Autor Boris Akunin.
Die Metamorphose zum Schriftsteller nahm Tschchartischwili mit wissenschaftlicher Akribie in Angriff. Den Erfolg seiner Bücher erklärt er mit dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren: einem charismatischen Protagonisten, der seriellen Grundanlage der Handlung sowie dem Vorhandensein gewisser spielerischer Elemente. Akunins Held Erast Petrowitsch Fandorin ist ein russischer Sherlock Holmes mit deutschen Wurzeln, ein Intellektueller mit athletischem Körperbau, grenzenlos edelmütig und redlich. Insgesamt hat Grigori Tschchartischwili 14 Bücher über Fandorin geschrieben, wobei sich der Charakter des Protagonisten sowie der wiederkehrenden Mitspieler von Roman zu Roman verändert, Erast Fandorin von den Gespenstern der Vergangenheit eingeholt wird, Taten und Handlungen aus früheren Serien stets in späteren Fortsetzungen Folgen zeitigen. Auch spielerische Elemente und Allusionen finden sich zur Genüge, scheinen doch in zahlreichen Charakterisierungen Zitate aus der russischen literarischen Klassik durch. Im Endeffekt entstanden so vielschichtige Romane, die sich wie gewöhnliche Thriller konsumieren lassen, bei denen der Leser aber genauso gut rätseln kann, welchem klassischen Werk Tschchartischwili diese oder jene Episode entlehnt hat.
Auch mit der Wahl der Handlungszeit traf Boris Akunin ins Schwarze: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Epoche, die uns sehr nah scheint, zugleich aber auch von historischer Romantik erfüllt, in der es noch Adelsehre gibt, Duelle ausgefochten werden, die holde Weiblichkeit zart und bezaubernd daherkommt. Eine Zeit, die alle mehr oder minder aus den Lehrbüchern des Literatur-Unterrichts zu kennen glauben. Und diese sattsam bekannte Epoche wird plötzlich zum Material einer unterhaltsamen Lektüre, die gleichwohl hohen Ansprüchen genügt.
Letzteres bildet wohl den Kernpunkt dessen, was Grigori Tschchartischwili untrüglich erahnte: Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre fehlte der Gesellschaft anspruchsvolle literarische Zerstreuung. Unterhaltungsliteratur, die man in der Metro oder der Vorortbahn lesen konnte, ohne sich dafür vor sich selbst oder seiner Umgebung zu genieren. Die man in das Sommerhaus oder den Urlaub mitnehmen konnte.
Zunächst fand hauptsächlich das intellektuelle Publikum Gefallen an Fandorins Abenteuern. „Diese Krimis hat ein Übersetzer aus dem Japanischen geschrieben, einer von uns, ihn kann man lesen. Einen Krimi von irgendjemandem würde ich nicht in die Hand nehmen.“ So veranschaulichte mir eine aus einer Professorenfamilie stammende Kommilitonin ihre Vorliebe für die Serie. Doch die anfangs als Elite-Lektüre gehandelten Bücher Grigori Tschchartischwilis gewannen bald eine breite Leserschaft in allen Schichten der Gesellschaft und die Fandorin-Romane wurden buchstäblich zu einer Parallelwelt. Neben der Hauptserie entstanden Nebenzyklen wie beispielsweise „Wneklassnoje tschtenije“ (in Deutsch 2006 als „Der Favorit der Zarin“ erschienen), in denen Vorfahren und Nachkommen des Protagonisten – etwa Erasts Enkel Nicholas Fandorin – eine Rolle spielen. Eine eigenständige Serie begründeten dann Texte, in denen eine Nonne –Schwester Pelagia – ermittelt. Ebenso wird Grigori Tschchartischwili die Urheberschaft für zwei weitere Literaturprojekte zugeschrieben.
Zum einen handelt es sich dabei um einen Romanzyklus, als dessen Autor ein gewisser Anatoli Brusnikin firmiert. Die Texte „Geroi inogo wremeni“ (wörtlich: Held einer anderen Zeit) und „Dewjatny spas“ (wörtlich: Der neunte Erlöser) sind in ebenjenem Duktus eines Lesebuchs zur Literatur des 19. Jahrhunderts geschrieben, die Initialen des Verfassernamens ergeben als Anagramm gelesen das Pseudonym Grigori Tschchartischwilis, und last but not least taucht dieser Anatoli Brusnikin urplötzlich aus dem Nichts mit guter historischer Prosa auf. In deren Vermarktung zudem kolossale Mittel investiert wurden. Hätten sich die Verleger wirklich so verausgabt, wenn dieser Unbekannte nicht Akunin wäre? Die ganze Geschichte riecht stark nach Konspirologie, allerdings tritt dabei auch ein interessantes Phänomen zutage: Veröffentlicht irgendein noch namenloser Autor unter einem Pseudonym, wird sofort die Vermutung laut, es handele sich um eine weitere Reinkarnation Grigori Tschchatischwilis.
Dabei scheinen den Schriftsteller bereits ganz andere Dinge zu beschäftigen. Offenbar hat er in der Literatur wie seinerzeit im Metier des Übersetzens ein Limit erreicht. Seit Ende des vergangenen Jahres unterhält Tschchartischwili einen Blog im LiveJournal und schreibt darin zu historischen Themen. Er führt bemerkenswerte Fakten an, auf die er bei seiner Arbeit an den Romanen gestoßen ist, zieht geschichtliche Parallelen zur Gegenwart, stellt ungewöhnliche Bilder und Fotos ein, zitiert Erzählungen, Tagebucheinträge und Parabeln. Ende 2011 erschien der Blog als Buchausgabe, nachdem Tschchartischwili zuvor bereits eine Anthologie herausgegeben hatte, in der er von Lesern seines Blogs stammende Foto-Hokkus – Geschichten aus dem Leben ihrer Familien – präsentiert.
An dieser Stelle könnte man den biografischen Abriss über Grigori Tschchartischwili beenden, würde unser Held nicht gerade jetzt eine dritte Metamorphose durchlaufen. Tschchartischwili hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er liberale Ideen vertritt. Sowohl in seinem Blog als auch in Interviews äußerte er sich mehrfach missbilligend über Wladimir Putin und das politische System im heutigen Russland, bezeichnete das Gerichtsverfahren gegen Michail Chodorkowski als politisch motiviert und schändlich. Wie der Großteil seiner Mitbürger sah allerdings auch Tschchartischwili bis zum Dezember 2011 seinen Platz nicht in der Politik. Als nach den Parlamentswahlen jedoch am 5. Dezember im Moskauer Stadtteil Tschistyje Prudy eine Protestkundgebung stattfand und am 6. Dezember die gewaltsame Auflösung der Straßenproteste auf dem Triumfalnaja-Platz folgte, wurde bereits am 10. Dezember aus dem Schriftsteller und Blogger ein öffentlich wahrgenommener Politiker.
Die Geschichte dieser Verwandlung wird in Blogs und an häuslichen Küchentischen lebhaft kolportiert und mit immer aberwitzigeren Details ausgestattet: Danach soll Grigori Tschchartischwili in seinem Haus bei Saint-Malo gesessen und an einem neuen Roman gearbeitet haben. Plötzlich sei er aufgesprungen, in ein Auto gestiegen, 500 Kilometer bis Paris gerast, im nächstbesten Flugzeug nach Moskau geflogen und mitten hineingeraten in die Kundgebung auf dem Bolotnaja-Platz, wo mehr als 50 000 Demonstranten begeistert seiner Ansprache lauschten. Tschchartischwilis Rede hielten viele für die beste an diesem 10. Dezember.
„Ich hätte nun wirklich nicht gedacht, dass ich jemals bei einer Kundgebung auftrete. Man kann sich kaum etwas vorstellen, das meinem ganzen Wesen fremder wäre“, schrieb er anschließend in seinem Blog. Bei der Protestaktion auf dem Bolotnaja-Platz hat Grigori Tschchartischwili die Gründung eines Koordinationsrates der Opposition vorgeschlagen und ist dem Gremium selbst beigetreten. Zunächst zeitweilig, nun dauerhaft. Und bis jetzt gelingt ihm auch diese neue Rolle.
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