Wo verläuft die rote Linie? Foto: AP
Die Überschrift ist kennzeichnend für das zurückliegende Jahr und könnte auch das neue Jahr prägen: Das Thema Iran steht immerhin seit mehreren Wochen im Vordergrund. Der Westen überlegt sich neue Sanktionen gegen die Islamische Republik. Teheran drohte seinerseits mit der Blockade der Straße von Hormus, durch die der Ölexport aus der Golfregion erfolgt. Washingtons Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Falls die Iraner den Seeweg sperren, müssen sie sich auf eine Militäraktion der Amerikaner gefasst machen. Der freie Schiffsverkehr ist eine der Stützen der Dominanz der Amerikaner, die sie mit allen Mitteln verteidigen.
Washington
und Teheran führen einen psychologischen Krieg, bei dem jede Seite ihre
Bereitschaft zeigt, alles für den Sieg zu geben – allerdings in der
Hoffnung, dass es doch nicht zum Krieg kommt.
Warum kam es
ausgerechnet jetzt zu Spannungen? Hat Iran große Fortschritte bei der
Umsetzung seines Atomprogramms gemacht? Wohl kaum. Teheran kündigte
provokativ die Inbetriebnahme einer neuen Urananreicherungsanlage an.
Aber sogar der US-Verteidigungsminister Leon Panetta räumte ein, dass
die Entwicklung von Atomwaffen in Iran bislang nicht bewerstelligt
werden könnte. Nach der vorjährigen Intervention in Libyen wollen die
Amerikaner offenbar wieder keine erneute Militäraktion. Ein Beweis dafür
ist die Äußerung des Pentagon-Chefs, der Wirtschaftssanktionen gegen
Teheran forderte.
Die Eskalation hängt damit zusammen, dass sich
erstmals in der jahrelangen Debatte um Irans Ansprüche als Atommacht
zwei Aspekte verflechtet haben: der globale (Nichtverbreitung von
Atomwaffen) und der regionale (die Konflikte zwischen Sunniten in den
meisten Golfstaaten und Schiiten in Iran, die sich nach dem arabischen
Frühling im Vorjahr zugespitzt haben).
Die USA befassen sich
vor allem mit globalen Fragen. Sollte der Iran seine eigenen Atomwaffen
bauen, wäre das schädlich für das internationale Image Washingtons. Für
Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate usw. geht es
vor allem um die regionale Dominanz. Nach dem Machtsturz Saddam Husseins
im Irak hatte Iran an Bedeutung gewonnen. Der arabische Frühling war
eine Art Revanche dafür: Der syrische Präsident Baschar al-Assad,
bekanntlich der wichtigste Verbündete Teherans in der Region, steht auf
der Kippe. Sollte er seine Macht verlieren, wäre das eine Wende des
regionalen Kräfteverhältnisses.
Für die Amerikaner ist die
aktuelle Situation ambivalent: Einerseits ist eine Art „Koalition der
Freiwilligen“ aus den arabischen Monarchien, Israel und den USA
entstanden, wie der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu
sagen pflegte. Und zwar aus verschiedenen Gründen, aber alle sind daran
interessiert, dass die Iran-Frage endlich vom Tisch geräumt wird.
Andererseits riskiert Washington, sich in ein ohnehin kompliziertes
Spiel mit dem Iran verwickeln zu lassen, das von den ölreichen
Monarchien geprägt wird. Nicht zu vergessen werden darf auch, dass
US-Präsident Barack Obama erst kürzlich das Ende des „kriegerischen
Jahrzehnts“ verkündet hat. Ein neuer Militäreinsatz wäre deshalb eher
unangebracht.
Wie verhält sich Russland in dieser Situation?
Moskau lehnt wie immer zu harten Druck auf souveräne Staaten geschweige
denn Kriegshandlungen ab. (Nur einmal verletzte es dieses Prinzip – bei
der Abstimmung über die Libyen-Resolution im UN-Sicherheitsrat im März
2011.) Zumal der Vorwand und die wahren Ziele der Militärkampagnen oft
unterschiedlich sind, was die Einsätze im Irak und Libyen beweisen.
Wenn
man den Stil der iranischen Diplomatie bedenkt, könnte man vermuten,
dass der jetzigen Entschlossenheit ein neuer „friedlicher Angriff“ mit
gewissen Angeboten an die Weltgemeinschaft folgen sollte. Dabei sollten
sie vor allem an Moskau und Peking gerichtet werden – so etwas ist schon
häufig passiert. Man sollte aber nicht denken, dass Russland um jeden
Preis Iran beschützen würde. Zeichenhaft war die gereizte Reaktion des
russischen Außenministeriums auf die Inbetriebnahme des neuen
Urananreicherungswerkes: Die Meinung der Weltgemeinschaft sollte nun
einmal nicht so arrogant ignoriert werden.
Wenn man sich von
ideologischen Aspekten wie auch von eigenen Sympathien und Antipathien
absieht, dann kann festgestellt werden, dass Russland von einer
Militäraktion gegen Iran profitieren könnte. Denn sie würde vor allem
die Entwicklung der iranischen Atomwaffen bremsen. Genau wie alle
anderen Staaten will Russland nicht, dass der Iran zur Atommacht
aufsteigt. Außerdem würde ein Konflikt um den Iran die Ölpreise
hochtreiben, was ebenfalls günstig für Moskau wäre, obwohl nur
kurzfristig. Und schließlich hätten die USA weniger Möglichkeiten für
ihre Aktivitäten im postsowjetischen Raum, wenn sie sich mit Teheran
anlegen würden. Besonders wenn man bedenkt, dass die Amerikaner immer
von Russland abhängen, wenn sie auf Probleme in Zentralasien stoßen. Die
Situation um Afghanistan ist Beweis genug. Im Falle eines Angriffes auf
den Iran würde dasselbe passieren.
Aber vorerst scheinen
Washington und Teheran zu begreifen, dass es eine rote Linie gibt, die
nicht überschritten werden darf. Da aber in der ganzen Welt vieles
unklar ist, kann die weitere Entwicklung der Situation kaum vorhergesagt
werden.
Fjodor Lukjanow ist der Chefredakteur der Zeitschrift "Russia in Global Affairs"
Dieser Beitrag erschien zuerst bei RIA Novosti
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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