Die Solowezki-Inseln

GULAG, Kloster, Esoterik: Bilder eines außergewöhnlichen Orts

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Die Solowezki-Inseln, 160 Kilometer südlich des Polarkreises im Weißen Meer gelegen, haben in der Geschichte Russlands von jeher eine besondere Rolle gespielt. Hier befand sich einst eine Kerkerfestung, die als größte und strengste Zuchtanstalt des russischen Imperiums galt. Die Kasematten des Solowezki-Archipels waren nicht minder berüchtigt als die Bastille in Frankreich, Alcatraz in Amerika oder Auschwitz in Polen. Seit dem 15. Jahrhundert wurden im Solowezki-Kloster hochrangige politisch missliebige Gefangene eingekerkert. Spezielle Gefängnisse gab es in jener Zeit noch nicht, deshalb pferchte man die Sträflinge in Türme oder Keller von Festungen und Forts. Auch die Klosteranlage auf den Solowezki-Inseln war eine derartige uneinnehmbare Festung.

Vom Solowezki-Archipel aus wurde die Kolonisierung des russischen Nordens betrieben. Das faktisch autonom existierende Kloster verfügte über Reichtum und Einfluss, es unterhielt eigene Lehranstalten, Fabriken, ein Heer sowie eine Flotte, die Klosterbibliothek zählte zu den wertvollsten Schriftensammlungen im zaristischen Russland. Die Oktoberrevolution des Jahres 1917 führte jedoch zur Verwüstung und Ausplünderung des Klosters. In den 1920er Jahren entstand auf den Solowki, wie die Inseln im Volksmund heißen, das Solowezki-Straflager zur besonderen Verwendung (SLON). Es war das erste der GULAG-Arbeitslager, die in der Folgezeit das gesamte Land wie ein Netz überzogen. Als der 2. Weltkrieg begann, wurde auf dem Archipel eine Seefahrtschule eingerichtet, die obdachlose Jugendliche zu Schiffsjungen für die sowjetische Nordmeerflotte ausbildete.

Doch die düsteren Kapitel der Inselgeschichte gehören der Vergangenheit an. Heute lebt wieder eine Mönchsbruderschaft in den alten Mauern, und die legendären Solowki entwickeln sich zu einem der wichtigsten Touristenziele Russlands. Nicht nur wegen der zauberhaften Natur des urtümlichen russischen Nordens, sondern auch, weil die UNESCO dem Solowezki-Archipel 1992 den Status eines Weltkulturerbes verlieh.

Heute unterhält das Kloster erneut eine eigene Flotte, die mit russisch-orthodoxen Heiligenbildern geschmückten Schiffe befördern Pilger und Touristen. Unmittelbar auf dem Klostergelände wurde ein Gemüsegarten angelegt, in dem Blumen und Kräuter gedeihen. Die Klosterbäckerei ist berühmt für ihre delikaten Teigpasteten. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass auf den Solowezki-Inseln ein in Russland längst vergessen geglaubtes Handwerk überlebt hat: die Herstellung kunstvoll ausgestochener Ingwerhonigkuchen, die „Rehlein“ genannt werden. Man kann die bunt gefärbten, mit Zuckerguss überzogenen Knusperhäuschen, Eulen, Bären, Rentiere, Engel, ja sogar Kutschen nebst Kutscher aus Pfefferkuchenteig an jedem Souvenir-Kiosk erstehen.

Als Transportmittel nutzen die Bewohner der Solowezki-Inseln alte sowjetische „Uasik“-Jeeps und neue Import-Quads. Wer nicht so begütert ist, wählt das Fahrrad. Um auf sumpfigem Boden und im Schnee voranzukommen, bauen sich die Einheimischen aus allerlei Fahrzeugteilen und Materialien so genannte „karakaty“– hausgemachte Offroad-Mobile mit riesigen Niederdruckreifen. Als Sitz kann in so einem geländegängigen „karakat“ schon einmal ein Schemel dienen und auf die Frontabdeckung – fast wie ein Totem – ein Bärenkopf gemalt sein.

Die Bewohner der Solowezki-Inseln sind überwiegend für das Kloster tätig oder versorgen die anreisenden Touristen und Pilger. Die 55-jährige Maria Nikiforowa eilt jeden Morgen zur Anlegestelle, ganz so als ginge sie zur Arbeit. Sie hält ein Sperrholzschild hoch, auf dem ein „Komfortzimmer“ angeboten wird, und hofft, dass einer der per Schiff eintreffenden Touristen Interesse zeigt. Das besagte Komfortzimmer befindet sich in einer schlichten dörflichen Blockhütte mit Holzofen. Gleich fünf eiserne Betten sind hineingezwängt, auf jedem liegt eine Matratze. Damit ist die Hausherrin gerüstet für die „touristische Hochsaison“, die hier lediglich im Juli und August herrscht. Im Juni ist es noch, im September bereits wieder zu kalt. Die Bettgestelle unterscheiden sich nach Art und Größe, denn Maria Nikiforowa hat sie aus zerstörten und verlassenen Häusern der Umgebung zusammengetragen. Der in Aussicht gestellte „Komfort“ besteht in einer hölzernen Toilette mit Loch im Fußboden. Hotels gibt es in der Siedlung sowieso fast keine, und die Besucher der Insel sind überwiegend genügsame Rucksacktouristen oder christliche Pilger. Maria selbst kommt während der Saison bei Verwandten unter.

Neben windschiefen Holzhütten stehen schon lange nicht mehr genutzte Motorräder und Lastwagen, doch die meisten Häuser sind bewohnt. Wäsche flattert im Wind. Sie wird lange hängen müssen, denn die Sonne ist auf den Solowezki-Inseln kein allzu häufiger Gast, und ein gewaschenes Hemd braucht mitunter mehrere Tage zum Trocknen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war ein Teil der Inselbewohner auf das Festland gezogen, weil es zuhause keine Arbeit gab. Heute jedoch ist ein umgekehrter Prozess zu beobachten: Es ziehen mehr Menschen zu. Viele betrachten den Solowezki-Archipel als Ort der Wiedergeburt der traditionellen russischen Kultur und Spiritualität. Die einen bauen in einem Schuppen eine Hochseejacht nach holländischen Plänen aus der Zeit des Zaren Peter I. Andere versuchen in Vergessenheit geratene Handwerkskünste neu zu beleben: Sie schneidern traditionelle Stehbund-Trachtenhemden, töpfern oder fertigen Holzschnitzereien an. Doch die Inselgruppe fasziniert auch Esoteriker und Anhänger der Theorie der Paläokontakte, die daran glauben, dass Abgesandte einer außerirdischen Zivilisation vor Urzeiten die Erde besuchten. Auf den Solowezki-Inseln sind prähistorische Steinlabyrinthe erhalten geblieben, deren Bestimmung bis heute ungeklärt ist. Die meisten Wissenschaftler nehmen an, dass es sich dabei um religiöse Ritualplätze hier siedelnder Fischerstämme handelt. Doch die Anhänger der Ufologie lassen sich nicht beirren: Die Steinspiralen wurden von Außerirdischen, zumindest aber von einer hochentwickelten vorzeitlichen Zivilisation hinterlassen. Touristen durchwandern die Windungen der Labyrinthe in der Hoffnung auf Erleuchtung oder versuchen im Mittelpunkt der steinernen Gebilde zu meditieren. „Auf gar keinen Fall in weißen Hosen!“, belehrt ein alteingesessener Esoteriker eine junge Frau, die gerade das Labyrinth betreten will. „Sonst stimmt die Farbe der Energie nicht!“

Die Kirche betrachtet die heidnischen Steinlabyrinthe nicht gerade mit Wohlwollen, bewahrt sie aber immerhin. Ausflüge auf einem Schiff der Klosterflotte einschließlich Besuch der heidnischen Kultstätten gehören zum Exkursionsprogramm, das den Pilgern angeboten wird.

Jeden Sonntag gibt es in der Klostersiedlung ein religiöses Fest. Singend umrunden die Gläubigen bei den Kreuzprozessionen unter Kirchenfahnen den Klosterkomplex. Glocken läuten, Ikonen werden getragen, Geistliche besprengen die versammelte Gemeinde mit Weihwasser. Man hat den Eindruck, dass die gesamte Einwohnerschaft der Insel an diesen Umzügen teilnimmt. Hier auf den Solowezki-Inseln ist es leicht, gläubig zu sein, denn alles ringsum befördert die religiöse Hinwendung: die von jedem Winkel aus sichtbaren Kuppeln des Klosters ebenso wie der Wohlklang des Geläuts, die raue, asketische Natur ebenso wie die Entfernung zu den weltlichen Versuchungen der großen Städte. Kirchliche Verkaufsstände bieten zur Erbauung der Gläubigen Ikonen, Amulette, Literatur für das Seelenheil und sogar Gebetsgürtel feil.

Eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Solowezki-Inseln ist die Leuchtturmkirche auf dem Sekirnaja-Hügel, der höchsten Erhebung des Archipels. Direkt unter dem Kreuz, das die Turmspitze krönt, blinkt ein riesiges echtes Leuchtfeuer. Alles, was sich unterhalb der Signallampe befindet, gilt als Klostereigentum, das Leuchtfeuer selbst gehört dagegen dem Verteidigungsministerium, als strategisches Objekt bleibt dieser Teil des Turms Besuchern versperrt.

Die Pflanzenwelt der Solowezki-Inseln in Russlands Norden besitzt ihren ganz eigenen Reiz. Hier wachsen viele Zwerggehölze, hundertjähriges Moos bedeckt die Steine. Im flachen Küstenwasser wiegen sich Algenranken, und es scheint, als würde jeden Augenblick eine Nixe auftauchen. Dass sich Nixen hier aber nur selten sehen lassen, mag daran liegen, dass sie der Anblick des Schiffsfriedhofs aus verrosteten Fischereibarkassen am Ufer abschreckt. Dafür kreisen über dem Meer fettgefütterte Möwen, die jede Scheu vor den Menschen verloren haben. Aufdringlich betteln sie um Futter und reißen den Touristen die Brotkrumen geradezu aus der Hand. Man gewinnt den Eindruck, dass zum ersten Mal nach langen Jahren auf den Solowezki-Inseln wieder eine Zeit der Sattheit angebrochen ist.

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