"Wir wollen nicht mehr schweigen“

Die Kälte ist kein Hinderniss für die Demonstranten. Foto: AP

Die Kälte ist kein Hinderniss für die Demonstranten. Foto: AP

In Russland ist das Aufkeimen einer revolutionären Stimmung zu beobachten. Die Führung reagiert mit der Ankündigung von Reformen.

Der Sturz jahrzehntelang regierender autoritärer Herrscher in der arabischen Welt schien anfangs keine Gemeinsamkeit mit der russischen Wirklichkeit zu haben. Doch die Russen begannen, das Schicksal Muammar Gaddafis aufmerksam zu verfolgen, vor allem nach dem öffentlichen Konflikt zwischen Dmitrij Medwedew und Wladimir Putin, die völlig unterschiedlich auf die Vorgänge in Lybien reagierten.

Die Wahlen zur Staatsduma als Generalprobe für die Präsidentschaftswahlen im März haben gezeigt, dass es um die Regierungspartei "Einiges Russland" schlecht steht: In einigen Regionen konnte die Mehrheit in der gesetzgebenden Versammlung nur deshalb gewahrt bleiben, da sich kein Gegenkandidat zur Wahl gestellt hatte. Bereits damals führte der bekannte Blogger Alexej Nawalny die Bezeichnung „Partei der Gauner und Diebe“ ein. Nach den Wahlen wurde die Gründung der Allrussischen nationalen Front initiiert, deren Funktionäre auf jegliche Art und Weise unterstrichen, dass Putin kein Parteiführer, sondern ein nationaler Führer sei.

Nach dem Parteitag im September wurden alle Hoffnungen des liberalen Teils der Gesellschaft begraben: Putin wird nicht nur zurückkehren, womöglich für zwölf Jahre, er hatte auch nie vor, abzutreten, wie aus  Medwedews Erklärung hervorging. Der nächste Schock war die Revolte des Finanzministers Alexej Kudrins, der verkündete, in der Regierung Medwedews nicht mitarbeiten zu wollen. Die Buhrufe im Sportkomplex Olimpijskij haben gezeigt, dass mit der Rochade an der Regierungsspitze selbst diejenigen unzufrieden waren, die als eingefleischte Putin-Anhänger galten.

Die Umfragewerte des Tandems und der Regierungspartei haben den Absturz noch beschleunigt und die Gesellschaft, die auch dank der sozialen Netzwerke politisch interessierter geworden ist, verfolgte aufmerksam die Wahlfälschungen. Diese waren eine traditionelle Erscheinung, neu dagegen war die Resonanz auf diese Skandale, die durch das Internet noch verstärkt wurde. Die hartnäckige Weigerung der Zentralen Wahlkommission, auf diese Skandale zu reagieren, goss nur noch zusätzliches Öl ins Feuer. Die Menschen versuchten, ihrer staatsbürgerlichen Haltung legal eine Stimme zu verleihen: Sie gingen nicht nur zur Wahl, um für jede nur mögliche Partei außer der „Partei der Gauner und Diebe“ zu stimmen, sie trugen sich zudem auch noch als Wahlbeobachter ein und konnten miterleben, wie ihre Stimmen gestohlen wurden.

Die Partei Einiges Russland kam nicht auf 50%, und die Bürger begriffen, dass man im Land etwas ändern kann. Am 5. Dezember gingen rund 10.000 Moskauer zu Kundgebung für ehrliche Wahlen auf die Straße. Als Antwort darauf kam es zu Gegenkundgebungen der „Unsrigen“ und zu den größten Massenverhaftungen der letzten Zeit, und zwar nicht nur von „professionellen“ Demonstranten.

Ihre Bereitschaft, an weiteren Aktionen teilzunehmen, haben in den sozialen Netzwerken bereits Zehntausende verkündet. Dabei wurde die systemfremde Opposition auch von einem Teil der parlamentarischen Opposition unterstützt. Die Mächtigen versuchten anfangs noch, keine neuen Protestaktionen zuzulassen, indem sie auf dem Ploschtschad rewoljuzii (Revolutionsplatz) Baumaßnahmen in die Wege leiteten, mussten letztendlich jedoch einlenken: Der Bolotnaja ploschtschad wurde zur Verfügung gestellt, und die Polizei verhielt sich korrekt. Nach Angaben der Behörden versammelten sich hier 25.000 Menschen, nach Einschätzung der Teilnehmer waren es mindesten 50.000. Der Protest wurde gesamtrussisch — auch in anderen Städten kam es zu Massenkundgebungen. Die Demonstranten durchbrachen die Informationsblockade: Zum ersten Mal wurden sie von den überregionalen Fernsehsendern gezeigt.

Die Reaktionen waren gespalten. Medwedew kündigte eine politische Modernisierung an: Übergang zum Antragsprinzip bei der Registrierung von Parteien, Abschaffung der Unterschriftensammlung bei den Wahlen, Wiedereinführung der Gouverneurswahlen. Putin jedoch äußerte sich abwertend — er verglich die weißen Schleifen, das Symbol der neuen Bewegung, mit der Werbung für Verhütungsmittel und die Demonstranten mit Bandar-Logs, dem Affenvolk aus Rudyard Kiplings Dschungelbuch.

Zur Kundgebung auf dem Sacharow-Prospekt zwei Wochen später kamen noch mehr, ungefähr 80.000 Menschen, im wesentlichen mit Anti-Putin-Losungen. Von der Tribüne der Kundgebung herab verkündete der Schriftsteller Boris Akunin die Geburt der Bewegung Ehrliches Russland. Kudrin erklärte seine Bereitschaft, als Vermittler zwischen den Demonstranten und der Regierung aufzutreten, rief dazu auf, gemeinsam die Reformen zu diskutieren und im Anschluss neue Staatsduma-Wahlen durchzuführen. Doch Putin macht erst einmal deutlich, dass er zu Kompromissen nicht bereit ist, obwohl ihm nach Aussagen von Meinungsforschern der Sieg in der ersten Wahlrunde nicht sicher ist.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung Vedomosti.

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