Wackelt Lenins Sockel? Wohin mit seinen Standbildern?

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Zu Zeiten der Sowjetunion schmückte sich jede Stadt, die etwas auf sich hielt, mit einem Leninplatz, auf dem ein Standbild von Wladimir Iljitsch Uljanow stand. Jeder Knirps wusste damals, dass sein "Kampfname" Lenin und er der Begründer der UdSSR war. Die Zeiten haben sich geändert, doch die Lenin-Denkmäler sind geblieben.

Lenin in der Sowjetunion

Auch ich weiß noch, wie wir Dreikäsehochs im Kindergarten zum Geburtstag Lenins Gedichte und Lieder über den „Führer aller Werktätigen“ eingeübt hatten. Meine Eltern nahmen sich extra von der Arbeit frei, um beim morgendlichen Festakt am 22. April anwesend zu sein. Ich stand unter dem Porträt dieses gutmütig lächelnden, kahlköpfigen Mannes, sang zusammen mit den anderen patriotische Lieder und war sehr stolz – auf ihn, auf mich und auf unsere gemeinsame sowjetische Heimat.

Heute haben Russlands Kinder kaum noch eine Vorstellung, wer Onkel Lenin war und warum im gesamten Land seine Standbilder herumstehen. Sieht man einmal von Jesus Christus und Buddha ab, gibt es rund um den Erdball niemanden, für den so viele Denkmäler aufgestellt wurden. Denn mit der Beisetzung Lenins am 27. Januar 1924 auf dem Roten Platz in Moskau breitete sich nicht nur in der UdSSR, sondern weltweit ein anhaltender Lenin-Kult aus, der durch Errichtung von Lenin-Denkmälern dokumentiert wurde.

Aus Stein gehauen, aus Beton oder Bronze gegossen, findet sich der Revolutionsführer auf dem halben Planeten. Selbst die Terrakotta-Armee des chinesischen Kaisers liefe vor Schreck auseinander, würde man sämtliche Lenin-Denkmäler an einem Ort versammeln. Die genaue Anzahl der im 20. Jahrhundert errichteten Standbilder des „Großen Lenin“ ist wohl kaum zu ermitteln. Wissenschaftler, die sich speziell mit diesem Thema befasst haben, gehen jedoch davon aus, dass gegenwärtig weltweit etwa 6 000 überlebensgroße Denkmäler und Skulpturen erhalten sind. Sogar in der Antarktis, nämlich auf dem Gelände der heute als historische Stätte geschützten sowjetischen Forschungsstation „Pol der Unzugänglichkeit“, findet man eine Lenin-Büste.

Obwohl zu Zeiten der Sowjetunion Lenin allgegenwärtig war und verehrt wurde, witzelte man unter der Hand über gewisse Details der Standbilder. Beispielsweise zeigte Lenin mit ausgestreckter Hand oder seinem Zeigefinger scheinbar in ausgewählte Richtungen, worüber man schon schmunzeln konnte. So wies die Hand des „Revolutionsführers“ auf ein Gefängnis, ein anderes Mal lenkte der „große Lenin“ das Volk zu einer Nervenheilanstalt. Nicht unbemerkt blieb auch, dass zwei Lenin-Denkmäler quasi den Finger gegeneinander richten, als würden sie sagen: Nein, nein, nicht ich bin schuld, sondern du! Jemand wollte sogar einen grundlegenden „Lenin-Code“ entdeckt haben, dem zufolge sämtliche Lenins-Standbilder im Lande aufeinander weisen und den Umriss einer geheimnisvollen Figur entstehen lassen.

Neben dem „wegweisenden Lenin“ existierten auch andere Arten, ihn darzustellen. Mitunter steht Russlands Ober-Bolschewist nachdenklich da, die Hände in den Taschen vergraben. Dann wieder schreitet er mit wehendem Mantel stolz voran, hockt auf einem Baumstumpf und bringt angestrengt etwas zu Papier oder nimmt fröhlich Kinder in den Arm. Zumeist haben die Bildhauer ihren Lenin in einen Anzug mit Weste gekleidet und ihm eine Schirmmütze in die Hand gedrückt, um den Revolutionsführer volksnah erscheinen zu lassen. Und das, obwohl Wladimir Lenin während seines europäischen Exils lieber Frack und Zylinder getragen haben soll. Auch schob man ihm schon einmal einen Globus oder einen ägyptischen Obelisk als Postament unter, den Sockel seines Denkmals konnte aber ebenso eine Eisenbahndraisine oder eine riesige Schraube bilden. Sogar auf einem Stapel – natürlich von ihm selbst verfasster – Bücher ruhte der Anführer des Proletariats. Manchmal wandte sich er sich vom Dach eines Panzerspähwagens an das Volk.

Nicht uninteressant ist, dass sowjetische Politiker, die von den kommunistischen Idealen abfielen und den Zerfall der UdSSR einleiteten, Wladimir Lenin bewusst oder unbewusst kopierten. Während des Augustputsches 1991 rief Russlands erster Präsident Boris Jelzin vor dem Regierungsgebäude in Moskau mit einem Megaphon von einem Panzer aus die Demonstranten zur Verteidigung der Demokratie auf. Und Juri Luschkow, der ehemalige Oberbürgermeister der Hauptstadt, ließ sich nie ohne seine Schiebermütze in der Öffentlichkeit sehen. Das sind doch interessante Parallelen.

Zu Sowjetzeiten zählten die Standbilder des “großen Revolutionärs“ zu den wichtigsten Propagandamitteln des sozialistischen Systems. Die russisch-orthodoxen Kirchen hatte man zu Lagerhallen oder Pferdeställen umfunktioniert und den Menschen ihren alten Gott genommen. Stattdessen gab man ihnen einen neuen Ersatzgott - Lenin. Die Denkmäler für den Gründer des Sowjetstaates wuchsen – stets „auf Bitten der Werktätigen“ – überall dort empor, wo diese Werktätigen massenhaft anzutreffen waren: auf zentralen Plätzen, in Grünanlagen und Parks, auf dem Gelände von Betrieben und Institutionen.

Lenin heute

Die Zeiten haben sich geändert, doch die Standbilder sind geblieben, und so überblickt Lenin mit zusammengekniffenen Augen noch immer die meisten Fest- und Protestkundgebungen in ganz Russland. Zu Füßen des bolschewistischen Führers verabreden sich Verliebte zum Rendezvous, halten Tierschützer Plakate hoch, fordern Ärzte und Lehrer Lohnerhöhungen, kurven Teenager auf Inlineskates, machen Eisverkäufer und Popcorn-Stände gute Geschäfte. Und hier beginnt die Frage: Sind die Lenin-Denkmäler nur ein verblassendes Rudiment der Sowjetepoche oder ein Teil des russischen kulturellen Erbes? Viele Menschen sehen in ihnen das Symbol der einstigen Sowjetisierung des Landes, des Bürgerkriegs dem Millionen Russen zum Opfer fielen. Prowestliche Bürger fordern deshalb die Vernichtung aller Lenin-Denkmäler. Sie hegen damit die Hoffnung, die als Schande empfundene Sowjetperiode aus dem historischen Gedächtnis streichen und gleichzeitig den bis heute spürbaren Einfluss der Kommunisten in Russland schwächen zu können.

Seit Ende der 1980er Jahre tobt ein nicht erklärter Krieg um die Standbilder Lenins. Die Denkmale werden zerschlagen und gesprengt, mit Farbe übergossen oder als Schrott abgeliefert. Schon einmal gab es eine ähnliche Bilderstürmerei, nämlich bei Josef Stalin. Seine Standbilder wurden in den 1960er Jahren, als Generalsekretär Nikita Chruschtschow den Personenkult entlarvte, reihenweise demontiert. Ganz so schlimm ist es jetzt noch nicht, doch die Attacken auf Lenins Standbilder nehmen zu. So bekommt Lenin eine Hasenmaske verpasst oder eine Frauenperücke übergestülpt, ein anderes Mal hängt man ihm einen Müllbeutel an den ausgestreckten Arm. In Jaroslawl machten sich Jugendliche einen Spaß daraus, zu Lenins Geburtstag sein steinernes Ebenbild mit Würstchen zu bewerfen, worauf streunende Hunde das Denkmal umringten und heulten. In der Stadt Nachodka wurde der Granitsockel, auf dem der oberste Proletarier thront, ganz und gar „käseartig“ angemalt.

Wie anders reagieren da doch die rationalen Balten! Im westlettischen Liepāja goss man aus einem Bronze-Lenin 500 Glöckchen, die für 300 Dollar pro Stück verkauft werden. Aber auch die Ukrainer stehen den Balten nicht nach. Sie wollen ein Standbild des ihnen verhassten Bolschewistenführers zu einem Denkmal der Mutter Ukraine umgießen. Oder, sollte sich dieses Projekt zerschlagen, damit wenigstens irgendeine Lokalgröße – wie etwa einen historischen Bischof – ehren.

In jüngster Zeit werden Lenin-Denkmäler auch zu "Kunstobjekten" umfunktioniert. Im burjatischen Ulan-Ude verpasste man dem auf einem Steinsockel ruhenden riesigen Lenin-Kopf zum Schutz gegen die sibirische Kälte eine Pelzmütze mit Ohrenklappen. In Krasnojarsk dagegen wurde Lenin am Tag der Museen in einer spektakulären Show per Laseranimation als Turtle Ninja sowie als Batman „eingekleidet“. Auch das ist sicher eine Form der Schändung, die dem Aufstülpen einer Frauenperücke oder einer Hasenmaske gleichkommt.

Im Vergleich dazu leistet heute die immer noch stärkere „Lenin-Garde“ heftigen Widerstand. Wie der „Führer des Weltproletariats“ zu Lebzeiten niemals klein beigab, so scheint er auch nach seinem Tode wehrhaft zu bleiben. In Kalaschnikowo, einem Dorf im Gebiet Twer, kletterte ein Betrunkener aus unerfindlichen Gründen auf das lokale Lenin-Denkmal. Es stürzte um und begrub den Missetäter unter sich. Der Mann kam mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus.

Interessanterweise bewerten laut Statistik fast zwei Drittel der Bevölkerung Russlands die Rolle Wladimir Iljitsch Lenins in der Geschichte positiv. In den Provinzstädten legen junge Paare nach der Trauung noch immer Blumen an der örtlichen Lenin-Statue nieder. Was teils auch darauf zurückgehen mag, dass es keinen anderen geeigneten Ort gibt.

90 Prozent der Lenin-Standbilder befinden sich seit Langem nicht mehr in der Obhut des Staates. Ihre Pflege haben ortsansässige kommunistische Organisationen und Veteranenverbände übernommen, die unermüdlich die durch Vandalen angerichteten Schäden beheben.

Wahre Achtung vor dem „großen Lenin“ haben beispielsweise Saratower Arbeiter an den Tag gelegt. Bei Reparaturen am zentralen Lenin-Standbild fanden sie im Inneren des Betonpostaments eine Flasche Wodka, ganz offenbar von ihren Vorgängern hinterlassen. Als diese Flasche geleert war, kaufte die Brigade eine neue und mauerte sie mit einer feierlichen Botschaft für künftige Generationen wieder in den Sockel ein. Russland wird wohl noch eine ganze Weile mit Lenins Präsenz auf den Straßen und Plätzen leben.

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

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