Durch die Klischeebrille

Natalija Michajlenko

Natalija Michajlenko

Russischer Journalist wirft ausländischen Kollegen Ignoranz vor.

Die Demonstrationen im Dezember ließen bei der Auslandspresse erwartungsgemäß das Interesse aufflammen, die Vorgänge in Russland zu begreifen. Für mich und viele Kollegen bedeutete das, mehrmals am Tag auf die Fragen ausländischer Journalisten antworten zu müssen.

Aber die meisten Journalisten richteten zu meinem wachsenden Erstaunen ihr Augenmerk auf zweitrangige Fragen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ins Wesen dieses beispiellosen Ausdrucks zivilgesellschaftlichen Engagements in der russischen Gesellschaft vorzudringen.

Besonders deutlich wurde dies nach der Demonstration am 24. Dezember, als sich meine Gesprächspartner, als ob sie sich abgesprochen hätten, ausschließlich für Alexej Nawalny als politische Figur und für Michail Gorbatschow interessierten, der Putin den Rücktritt nahegelegt hatte.

Ich wiederholte hartnäckig, dass die Ovationen der Demonstranten und die Leidenschaftlichkeit Nawalnys diesen keineswegs zu einem anerkannten Führer der Opposition machen würden. Dabei versuchte ich ihnen zu erklären, dass Russland, dessen Bevölkerungsmehrheit Putin weiterhin wie gewohnt vergöttert, keine Aufrufe zum Sturm auf den Kreml braucht, sondern die ausdauernde, mühsame und verantwortungsbewusste Arbeit an einer programmatischen und nicht durch bloße Schlagworte definierten Opposition, die die Interessen einer bestimmten Gesellschaftsschicht zum Ausdruck bringt. Und dass ich eben genau deshalb bei all meiner Verehrung gegenüber Gorbatschow glaube, dass sein Aufruf an Putin nur ein Sturm im Wasserglas ist.

Ich versuchte die Aufmerksamkeit meiner ausländischen Kollegen auf das Aktionsprogramm von Alexej Kudrin zu lenken, das eine evolutionäre Entwicklung der Zivilgesellschaft vorschlägt. Dabei sind weder Nawalny noch Kudrin geeignete Führer, sondern lediglich Symptome jener Prozesse, die gerade in der russischen Gesellschaft entstehen.

Doch meine Bemühungen lösten bei den Gesprächspartnern nur ungeduldige Gereiztheit aus und ließen sie stur zu ihren Fragestellungen zurückkehren, ohne sich von tiefergehenden Analysen ablenken zu lassen. Dieses militante Desinteresse brachte in den letzten Tagen viele seriöse internationale Medien zu kuriosen Schlussfolgerungen.

Die amerikanische Business Week beschloss, dass als einzig

überzeugender Oppositionsführer nur der Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow in Frage komme, weil er „der einzige Vertreter der Oppositionsbewegung ist, der über internationales Ansehen verfügt“. Die Chicago Tribune beschloss, Wladimir Putin eine große Nähe zum Traktat „Über die Kriegskunst“ des chinesischen Militärstrategen Sunzi zuzuschreiben. Davon zeuge die Tatsache, dass er in Übereinstimmung mit den Ratschlägen des Chinesen „gegen seine Opponenten die ihnen eigene Desorganisation nutzt und steuert“. Man könnte meinen, dass Putin bei der Betrachtung der ewigen, sinnlosen Auseinandersetzungen unter seinen Gegnern ohne Sunzi niemals draufgekommen wäre.

Diese freiwillige Ignoranz ist nicht nur den internationalen Medien eigen, sondern allen politischen Amtsstuben. Die Weigerung, sich in die Nuancen der ein oder anderen nationalen Realität zu vertiefen, bringt sowohl die westlichen Länder in Libyen als auch Russland in Südossetien oder Transnistrien in die Bredouille.

Der Westen sieht Russland nach wie vor durch die Klischeebrille – ob wohlwollend, negativ oder neutral, aber eben klischeehaft. Hauptsache, es erfordert keine größeren kognitiven Anstrengungen: schwarzer Kaviar, Dostojewskij, Balalajka, die geheimnisvolle russische Seele, Wodka, Dissidenten, der dämonische KGB, die
Oligarchie, Matrjoschkas und 
revolutionäre Matrosen. Diese 
intellektuelle Faulheit mit dem 
Anstrich des gut verborgenen Gefühls der eigenen Überlegenheit hat den Westen schon einmal daran gehindert, die wahren 
Hintergründe des Zerfalls der 
Sowjetunion zu sehen, was ihn - völlig unangebracht - enttäuscht über die nachfolgenden Ereignisse sein ließ.

Man muss in einer irrealen Welt leben, um daran zu glauben, dass Kasparow tatsächlich „internationales Ansehen“ als russischer Oppositionsführer genießt, und ignorieren, dass der Mehrheit der Russen der Grad der Popularität ihrer Politiker „in den internationalen Kreisen“ völlig gleichgültig ist: Der Mensch lebt nicht von Croissants allein. Umso schwieriger zu verstehen, warum die Auslandspresse es vorzieht, die Figur Kudrin zu ignorieren, der international tatsächlich angesehen ist. 

Boris Tumanow, geboren 1938, arbeitete als Korrespondent 
in Westafrika und gilt als 
einer der erfahrensten russischen Auslandsjournalisten.

Dieser Text erschien zuerst bei gazeta.ru

Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland

Diese Webseite benutzt Cookies. Mehr Informationen finden Sie hier! Weiterlesen!

OK!