Schlimmer kann es nicht mehr werden

Steen Jakobsen. Foto: saxobank.com

Steen Jakobsen. Foto: saxobank.com

Im Interview spricht der Chef-Ökonom der Saxo Bank Steen Jakobsen über Kapitalismus, Marketingblasen und die Aussichten für das Jahr 2012.

Welches ist Ihre Prognose für Russland?

Alle Volkswirtschaften, einschließlich der russischen, gehen dem Ende ihres Zyklus entgegen, und zwar aus politischen Gründen. Das betrifft Russland, Europa, Asien und auch die Vereinigten Staaten in einem gewissen Maße. Die letzten fünfzig Jahre haben die Volkswirtschaften ohne größere Wandlung gearbeitet. Aber genau genommen haben sie die letzten fünf Jahre eine Art Finanzexperiment durchgeführt – sie „druckten“ immer mehr und mehr Geld.

Mit anderen Worten, mir scheint, dass 2012 ein Wendejahr werden wird. Oder um es vom praktischen Standpunkt zu betrachten, würde ich sagen, dass Russland mit einem maximalen Wachstum von 5% rechnen kann. Europa wird mit einem negativen Wachstum von bis zu 2 % aufwarten, die USA mit einem Wachstum von 1%, China im Bereich von 5 bis 6% liegen. Der Durchschnittswert des globalen Wachstums wird in etwa 2 bis 2,5% betragen, was man mit einem leichten Wirtschaftswachstumsrückgang oder einer Rezession vergleichen kann.

Sie sagen, dass das Jahr 2012 eine Talsohle beziehungsweise ein „Tiefstart“ für die Volkswirtschaften der gesamten Welt sein wird. Wer wird am besten vom Startblock wegkommen?

Wenn Sie schon fragen, so möchte ich sagen, dass das die Vereinigten Staaten sein werden, da mir scheint, dass die USA mit ihrem Wirtschaftszyklus allen um  ein bis zwei Jahre voraus sind. Amerika zeichnet sich durch flexiblere Arbeitskräfte aus und man darf zudem nicht vergessen, dass sein Kapitalmarkt zehnmal größer ist, als der des Zweitplatzierten. Asien hat ungefähr 60% der weltweiten Valutareserven angehäuft, die jedoch alle an den Dollar gekoppelt sind. Das bedeutet, dass die USA deren größter Geldgeber sind. Es sollte an dieser Stelle bemerkt werden, dass die USA sich zum heutigen Tag durch die strikteste Politik im Bereich des Umweltschutzes auszeichnen, die die Verwendung von Kraftfahrzeugen regelt und über das höchste Niveau bei der Verwendung von regenerativer Energie verfügt. Das Kreativitätsniveau bei Innovationen im industriellen Bereich ist ebenfalls das höchste. Und gleichzeitig verfügen sie über eine Infrastruktur, die die Basis für eine weitere Entwicklung ist.

Wird es zu einem Absturz in der Eurozone kommen?

Ja und nein. Ich sag es mal so: Es wird zu einer Wandlung der Eurozone kommen. Deshalb wird ein Kollaps der Eurozone in der Form, wie sie gegenwärtig existiert, unausweichlich sein. Aber nach dem Wechsel werden wir eine vollkommen neue Situation haben.

Welche Länder genau werden auf der führenden Position verbleiben?

In Europa gibt es nur einen richtigen Leader, und das ist Deutschland. Deutschland muss momentan für sich entscheiden, was wichtiger ist – Disziplin oder Solidarität. Gegenwärtig versucht Deutschland allen seinen Standpunkt aufzuzwingen, dass man zum Wohl des Wohlstandes sich selbst retten könne, doch in Wirklichkeit verschärft sein Vorgehen nur die Krise. Mir scheint, dass die Wirtschaftskennwerte Deutschlands sich ebenfalls verschlechtern werden. Aber im Grunde genommen wird Deutschland das führende Land der Eurozone bleiben. Seine Rolle muss jedoch neu betrachtet, seine Position geschmälert werden, weil Europa gegenwärtig von Frankreich und Deutschland gelenkt wird und dies dem europäischen Gedanken zuwiderläuft.

Werden Griechenland und einige andere Länder geopfert?

„Geopfert“ wäre zu viel gesagt. Ich würde es anders ausdrücken: Zu 95% kann man sicher sein, dass Griechenland und Portugal eine Art „Urlaub“ von der Eurozone erhalten. Ich denke nicht, dass sie aus der Europäischen Union austreten werden, doch ich nehme an, dass für das nächste Jahrzehnt oder die nächsten zwei Jahrzehnte Europa in drei Ligen geteilt sein wird: Länder, die  eine Art Block zusammen mit Deutschland bilden werden; andere Länder, die bereit sind, eine Allianz mit Deutschland einzugehen; und eine dritte Gruppe Länder, die einfach einen Neustart benötigen.

Welchen Platz wird Russland in der Welt einnehmen?

Die Rolle, die Russland in der Welt zugewiesen werden wird, wird nicht ganz so groß sein, wie die Rolle, die Russland für sich selber wünscht. Aber größer, als der Rest der Welt sich für Russland wünschen würde. Meiner Meinung nach wird Russland eine wesentliche Rolle im Stärkunsgprozess Europas spielen, da man eine einfache Erwägung treffen kann: Ein Land wie Deutschland benötigt Russland viel stärker, als zum Beispiel ein Land wie  Italien. Russland verfügt über die Ressource, die in Europa knapp ist – Energie. Aber hier liegt auch das Risiko, weil Russland seine Rolle als Energielieferant im Vergleich mit der Notwendigkeit interner Reformen überschätzt. Mit anderen Worten, ich würde mir für Russland eine größere Rolle wünschen, aber dabei glaube ich, dass Russland etwas vom Gaspedal gehen sollte, was seine eigenen Ambitionen und Bestrebungen betrifft.

In Davos wurde gesagt, dass Russland eigentlich kein BRIC-Mitgliedsstaat sein dürfe. Stimmen Sie damit überein?

Erstens glaube ich, dass die Vereinigung der BRIC-Staaten nur eine Art Marketingschritt ist. Deshalb zu erklären, dass jemand nicht in die BRIC-Gruppe gehört... Schauen Sie sich die BRIC-Staaten doch mal an: Brasilien, Russland, Indien und China – das sind absolut verschiedenartige Volkswirtschaften. Indien und China leiden unter einem riesigen Zahlungsbilanzdefizit, während Brasilien und Russland über einen Überschuss verfügen. Die einen verfügen über Energieressourcen, die anderen haben zu wenig Energieressourcen. Wenn ich deshalb ehrlich bin, so glaube ich, dass diese Behauptung absolut keine Bedeutung hat. Mir scheint, dass die Welt sich gegenwärtig viel zu sehr für Branding begeistert. Das Einzige, wozu die Schaffung solcher Begriffe wie BRIC führt, ist die Entstehung von „Marktblasen“.

Was zählen Sie außerdem noch zu solchen Marketingschritten?

Die WTO. Im Wesentlichen ist es doch so: Wenn man sich die Entwicklung des Handels anschaut, wird man feststellen, dass in den letzten zehn Jahren nichts Besonderes passiert ist. Auch hier haben die Leute sich zu sehr von ihren professionell gestylten und hübschen Power-Point-Präsentationen mitreißen lassen, aber in der Realität beobachten wir wesentlich mehr Handelsbarrieren, als es noch vor fünf oder zehn Jahren gab.

Wie bewerten Sie das jüngste Weltwirtschaftsforum in Davos?

Ich habe es weder mitverfolgt, noch weiß ich, was dabei herausgekommen ist. Weil das wieder so eine Übung darin ist, wer die besten Marktinstrumente und Marketingschritte anwendet. Alle Entscheidungen, die im vergangenen Jahr in Davos gefällt worden sind, haben sich zum größten Teil als fehlerhaft erwiesen. So haben zum Beispiel die amerikanischen Ökonomen im vergangenen Jahr für ihre Wirtschaft ein fünfprozentiges Wachstum vorausgesagt und der griechische Ministerpräsident erklärte, dass die Lösung für das Problem in Griechenland bevorstehe. Die Schlussfolgerung kann jeder selbst ziehen.

Klaus Schwab sagte, dass „das kapitalistische System nicht zu dem Modell der gegenwärtigen Welt passt“. Was denken Sie zu diesem Thema?

Ich könnte jetzt nicht einmal sagen, wo man in der Welt noch reinen Kapitalismus finden kann. Zum heutigen Tagen gibt es nicht einen einzigen Finanzmarkt, der nicht von irgendwelchen staatlichen Strukturen kontrolliert werden würde. So beträgt zum Beispiel der staatliche Anteil an der russischen Wirtschaft mehr als 70 %, in China sind es 100 %, in Europa insgesamt mehr als 50 %. Mir scheint, genau das ist das Hauptproblem der heutigen Welt – man tut so, als ob man ein richtiger Kapitalist sei, aber in Wirklichkeit arbeitet man unter den Bedingungen der Planwirtschaft. Man kann die Sache auch von der anderen Seite betrachten. Im kapitalistischen System werden Banken, die nicht konkurrenzfähig sind, von größeren Banken geschluckt. Das System, das zurzeit in Russland, Europa und den USA existiert, zeigt, dass schwache Banken vom Staat finanziert werden und schwache Staaten von transnationalen Konzernen. Ein solches Vorgehen passt ja so gar nicht zu richtigem Kapitalismus. Privatkapital wird durch staatliches Kapital verdrängt. Und genau deshalb bin ich optimistisch gestimmt: Schlimmer kann es nicht mehr werden.

Steen Jacobsen ist seit März 2011 Chef-Ökonom der Saxo Bank Gruppe. Zuvor arbeitete er bereits neun Jahre für Saxo, bevor er 2009 ausschied und zwei Jahre lang als Chef-Investor für Limus Capital Partners tätig war.

Dieser Artikel erschien zuerst bei Slon.ru

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