Auf dem Weg in die Erdgas-Ära

Weltwirtschaft - aus dem Ölhahn wird ein Erdgas-Herdring. Foto: AZAdam

Weltwirtschaft - aus dem Ölhahn wird ein Erdgas-Herdring. Foto: AZAdam

Die „Welt des Öls“ wird bald von einer „Welt des Gases“ abgelöst – mit weitreichenden geopolitischen Folgen.

Nach Auffassung des Pentagon stellt Russland heute die größte Gefahr für die NATO dar. Diese Gefahr erwächst allerdings nicht aus dem Spannungsfeld der militärstrategischen Konfrontation. Ausschlaggebend ist vielmehr die wirtschaftliche Kontrolle der Energieressourcen. Diese Annahme wird unter anderem durch die Ergebnisse der Studie „Erdgas als Instrument der staatlichen Politik Russlands“ gestützt, die das Institut für Strategische Forschungen des US Army War College Ende vergangenen Jahres veröffentlicht hat.

Die Verfasser der Studie gehen davon aus, dass das allmähliche Wiedererstarken Russlands trotz des gleichbleibend schwachen Potentials seiner Streitkräfte die globale Vormachtstellung der USA in zunehmendem Maße bedrohen wird. Der Grund: Die Öl-Ära neigt sich ihrem Ende zu. Diese Erkenntnis zwingt die Pentagon-Analytiker, die Prognosen für die Entwicklung der Kräfteverhältnisse auf der Welt in den nächsten Jahrzehnten zu revidieren.


In der Tat ist die Welt heute so geordnet, dass das „Blut der Zivilisation“, das Öl, von der militärischen und wirtschaftlichen Großmacht USA kontrolliert wird. US-Streitkräfte überwachen weltweit mehr als 60% der ölträchtigen Regionen. Ein bedeutender Teil der Erdölwirtschaft in allen Stadien des technologischen und wirtschaftlichen Zyklus ist in den Händen amerikanische Konzerne: von der Erkundung der Lagerstätte, der Förderung und Verarbeitung bis zur Erschließung von Absatzmärkten für das fertige Produkt. An der amerikanischen Börse wird über den Ölpreis von Morgen entschieden. Amerikanische Banken legen die wesentlichen Finanzkennziffern für Terminkontrakte an den Wertpapiermärkten fest.  


Die Weltwirtschaftsordnung formierte sich nach dem zweiten Weltkrieg nach dem Prinzip der Kontrolle über einen möglichst großen Teil der globalen Erdölreserven und des direkten Zugriffs auf diese. Die USA gingen als Sieger aus diesem Wettlauf hervor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch ändert sich die Situation. Es wird immer deutlicher, dass die Ölvorräte allmählich versiegen, alternative Energieträger (Biokraftstoff, Windenergie u.ä.) aber noch nicht in industriellen Größenordnungen genutzt werden können.

Die Zukunft gehört dem Erdgas


Somit wird unweigerlich das Erdgas in der Bedeutungsskala der Kraftstoffe an die erste Stelle treten. Das Gas eignet sich am besten, die Rolle des versiegenden Erdöls einzunehmen. Die Gasvorräte könnten bei gleichbleibendem Verbrauch die Entwicklung der modernen Zivilisation für mindestens 250 Jahre sicherstellen.


Die  führende Bedeutung des Erdgases für die weltweite Energieversorgung wird nach Einschätzung der Experten aus dem Pentagon unweigerlich zu einer Kräfteverschiebung in der politischen und wirtschaftlichen Weltordnung führen. Die von den USA dominierte „Welt des Öls“ wird einer „Welt des Gases“ weichen, in der die USA nur eine schwache Position behaupten können.

Öl- und Gasmarkt unterscheiden sich so grundlegend, dass eine Umlenkung des für die Machtsicherung in der „Welt des Öls“ konzentrierten militärisch-politischen Potentials auf den Kampf um die Vormachtstellung in der „Welt des Gases“ ausgeschlossen ist.

Das Gas ist gleichmäßiger über die Welt verteilt als das Öl. Die Kontrolle über die großen Lagerstätten erfordert daher deutlich mehr Kraft und Mittel. Gas wird heute hauptsächlich über Rohrleitungssysteme auf den Markt geliefert. Die Bedeutung des Gases für die Volkswirtschaften der Länder, die es verbrauchen, ist äußerst groß. Dieser Umstand bindet die Verbraucher-Länder viel stärker an die Liefer-Länder, als dies beim Ölverbrauch der Fall ist. Die Infrastruktur selbst und die auf dem Gasmarkt geltenden Gesetze haben sich darüber hinaus im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ohne Beteiligung der USA herausgebildet. Russland dagegen nimmt auf diesem Markt eine führende Position ein.  

Die USA reagieren auf diesen Trend mit einem forcierten Aufbau eines Systems für die Lieferung von Flüssiggas und neuen Technologien für die Förderung von Schiefergas. Die Produktion von Flüssiggas erfordert allerdings eine kostenintensive Infrastruktur für die Erdgasverflüssigung und anschließende Gasifizierung. Die Förderung von Schiefergas wiederum birgt hohe Umweltrisiken.

Diese Umstände bieten Russland fraglos weitreichende wirtschaftliche und geopolitische Vorteile. Bereits heute unterminiert das bilaterale System der Gasverträge die Einheit nicht nur Europas, sondern auch der NATO. Bereits jetzt nämlich sind die meisten Mitglieder dieses Bündnissystems Abnehmer russischen Gases. Angesichts des insbesondere von Deutschland anvisierten Verzichts auf Atomenergie wird diese Abhängigkeit weiter zunehmen.

Was können die USA diesem Trend entgegenhalten? Sie werden Europa wahrscheinlich dazu bewegen wollen, sich aus dem System der bilateralen Gasverträge mit Moskau zurückzuziehen und sich um eine geschlossen Position in der Gasfrage bemühen. Die dürfte jedoch nicht leicht zu haben sein. Unter Bedingungen einer wirtschaftlichen Krise wird Europa dazu bereit sein, Russland entgegen zu gehen, wenn im Gegenzug eine Aussicht auf Gaspreise besteht, die auch nur ein wenig unterhalb des Marktniveaus liegen.

Zudem arbeiten die USA offensichtlich weiterhin entschieden an der Einführung von Schiefergas auf dem europäischen Markt sowie an der Entwicklung einer Infrastruktur für Flüssiggas. Das könnte zu neuen wirtschaftlichen und auch ökologischen Problemen führen.

Zu erwarten ist außerdem der Versuch, die NATO durch einen forcierten Aufbau eines Raketenabwehrsystems zu stärken.

Russlands politische Führung blickt schwierigen Zeiten entgegen. Der außenpolitische Druck wird von Jahr zu Jahr zunehmen. Die in Betrieb gehenden Rohrleitungen für die Ausfuhr von Gas werden im Fokus der Aufmerksamkeit der Konkurrenz stehen. Nicht ausgeschlossen sind sogar subversiv-terroristische Anschläge auf die Infrastruktur der North-Stream-Pipeline und der South Stream.

Die zunehmenden Bedrohungen rufen eine Revision einiger Grundprinzipien der russichen Sicherheitsstrategie auf den Plan. Das „Zeitalter des Gases“ fordert von Russland Standfestigkeit und Besonnenheit in seinen Entscheidungen und bei der Wahl von Bündnispartnern.

Sergej Grinjajew ist Generaldirektor des Zentrums für strategische Einschätzungen und Prognosen.

Dieser Artikel erschien zuerst bei der Tageszeitung "Moskowskije Nowosti"

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