Heinrich Weiss. Foto: AHK
Wie bewerten Sie die momentane Krise in der Euro-Zone?
Es handelt sich um eine katastrophale Krise. Und zurzeit befinden wir uns in einer nicht kontrollierbaren Situation. Es hängt damit zusammen, dass Mitgliedstaaten der Europäischen Union - vor allem Länder aus Südeuropa - sich nicht diszipliniert verhalten und ihre Möglichkeiten der Mittelbeschaffung in zu hohem Maße genutzt haben. In Deutschland hatten vor 20 Jahren viele für eine einheitliche Währung gestimmt. Allerdings wurde die Steuer- und Schuldenpolitik nicht aufeinander abgestimmt, und diejenigen Artikel, die eine einheitliche Steuer- und Schuldenpolitik betrafen, wurden niemals eingehalten. Die momentane Situation ist nicht steuerbar und sie lässt sich prinzipiell auch nicht steuern, da es keinen Ministerpräsidenten von Europa und auch keinen gesamteuropäischen Generaldirektor gibt. Es gibt die 16 Ministerpräsidenten, und keiner von ihnen ist in der Lage, eine Entscheidung für alle zu treffen, niemand ist in der Lage, alle anderen zu disziplinieren… Deshalb bewegen wir uns auf eine Katastrophe zu. Und zwar nicht wegen des Euro - den Euro wird es als frei konvertierbare Währung noch lange geben. Die Probleme hängen vielmehr mit der Verschuldung zusammen. Wir lassen ständig Geld in dieses System fließen, doch in vielen Ländern [der Europäischen Union] lassen sich keine Anzeichen für diszipliniertes Vorgehen erkennen.
Und wo ist der Ausweg?
Es wäre angebrachter, über die Folgen zu sprechen. Die meisten Industrieländer sind zurzeit nicht besonders effektiv. Doch als Unternehmer und Mitinhaber einer Gesellschaft bin ich noch nicht einmal besonders beunruhigt - wenn unser Unternehmen gut arbeitet und ausgezeichnete Stahlwerke baut, werden wir weiter im Geschäft bleiben und keine Probleme bekommen. Vielen deutschen Industrieunternehmen geht es ebenso. Allerdings bleibt das Problem bestehen - für die Bürger, die Steuerzahler und künftige Generationen. Wir schaffen Lebensstandards für die künftigen Generationen, die spürbar niedriger sein werden als die momentanen. Die Menschen leben immer bewusster - sie verbrauchen weniger und sparen mehr. Firmen, die sich am Verbraucher orientieren wie beispielsweise der Einzelhandel, spüren diesen Trend bereits.
Was ist wichtiger für Deutschland - unser Eintritt in die WTO oder die Inbetriebnahme der Nord-Stream-Pipeline?
Diese beiden Dinge darf man nicht miteinander vergleichen (lacht). Ersteres betrifft die Politik und die Infrastruktur, Letzteres lediglich die Gasleitungen. Natürlich ist eine Gasleitung eine nützliche Sache, doch für die Verbraucher und für den Durchschnittsbürger ist kein großer Unterschied spürbar, denn das Gas wird in Zukunft nicht billiger werden. Und ich bin überzeugt, dass die Menschen für Gas einen hohen Preis bezahlen können. Die Nord-Stream-Pipeline ist nur für den russischen Energiekonzern Gasprom und die gasimportierenden Unternehmen wichtig, da durch die neue Pipeline die Kapazität für Gaslieferungen erhöht wird und diese zuverlässiger werden. Der Verbraucher spürt jedoch keinen Unterschied. Gut wäre es natürlich, wenn Sie mehr Gas in die Leitung pumpen würden und dies wie in einer richtigen Marktwirtschaft - also mit echter Konkurrenz auf dem Markt - erfolgte. Doch nach Ansicht vieler Kritiker verfügen die Unternehmen auf der Gas- oder Ölbranche in Wirklichkeit noch immer über eine Monopolstellung. Die großen Spieler dieses Marktes wie Shell oder BP sind bestrebt, echte Konkurrenz zu verhindern - was sehr schlecht ist.
Was erwarten die Mitglieder der Russisch-Deutschen Außenhandelskammer von den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland?
Die Deutsch-Russische Handelskammer unterstützt hauptsächlich deutsche Firmen, die mit Russland zusammenarbeiten, bietet aber auch russischen Firmen ihre Unterstützung. Die Tatsache, dass sich unter den 800 Mitgliedern der Kammer 170 russische Firmen befinden, hält deren Präsident Heinrich Weiss für ein gutes Ergebnis.
Auf diesem Gebiet bin ich kein Experte. Meines Erachtens besteht der positive Aspekt darin, dass keine großen Veränderungen in Sicht sind und der Präsident gemeinsam mit der Regierung alles tun wird, um im Bereich der Wirtschaft eine technologische Erneuerung voranzutreiben. Es herrscht folglich Stabilität. Andererseits werden die notwendigen Reformen, z.B. beim Zusammenwirken mit den Verbrauchern oder beim Kampf gegen die Korruption, nicht in Angriff genommen. Und dies ist ein negativer Aspekt, der Auswirkung auf die Erwartungen außerhalb des Landes hat.
Deutschland hatte sehr viel früher als Russland mit den Problemen der Arbeitsmigration zu kämpfen. In welchem Maße ist dieses Problem heute bei Ihnen gelöst?
In seinem Familienunternehmen, dem Maschinenbaukonzern SMS Group mit einem jährlichen Erlös in Höhe von 3 Mrd. Euro, blickt man auf eine langjährige Zusammenarbeit mit Russland zurück. Bereits 1932 ließ der Vater von Heinrich Weiss die erste Walzwerkanlage im gerade fertiggestellten Metallurgie-Kombinat von Magnitogorsk errichten.
Es gibt jetzt neue Regelungen, weshalb die Situation im Vergleich zu früher besser geworden ist, und es ist einfacher geworden, gute Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben. Andererseits ist es aufgrund bürokratischer Beschränkungen schwieriger geworden, russische Fachkräfte nach Deutschland einzuladen. Vor zwei Jahren wollten wir russische Jugendliche für ein Praktikum in unser Unternehmen holen. Die formale Abwicklung erwies sich allerdings als äußerst schwierig. Wir waren damals gezwungen, die Sache als Studentenaustausch zu deklarieren, und die Jugendlichen mussten nach einem halben Jahr wieder nach Russland zurück, weil ihr Visum abgelaufen war… Die Bürokratie im Westen ist keinen Deut besser als in Russland. Das Hauptproblem sind die Beschränkungen beim Visum, und dieses Problem verschärft sich eher noch. Und zwar nicht von russischer Seite, sondern vielmehr von Seiten der Europäischen Union! In Russland ist die Visumsregelung momentan bedeutend besser als noch vor einigen Jahren, in der EU ist dies jedoch nicht der Fall. Im Grunde herrscht in der Europäischen Union ein schrecklicher Bürokratismus mit viel unnützem und kostspieligem Personal, das der kleine Steuerzahler bezahlen muss; zudem gibt es eine Vielzahl unnützer einheitlicher Regelungen für Unternehmen aus Ländern mit mannigfaltigen kulturellen Unterschieden. Unter diesen Umständen ist es jedoch nicht möglich, einen einheitlichen Beschluss zu erarbeiten, der für alle geeignet wäre.
Haben Sie schon den Film "Chodorkowskij" des deutschen Regisseurs Cyril Tuschi gesehen? Und was halten sie von Michail Chodorkowskijs Geschichte?
Bedauerlicherweise habe ich diesen Film nicht gesehen. Ich gebe niemals ein Urteil über Dinge ab, bei denen ich mich nicht gut auskenne. Ich weiß nicht, was Chodorkowskij Schlimmes getan hat. Ich weiß nur, dass er gerichtlich belangt wurde, weil Putins Regierung ihn als potentiellen Konkurrenten fürchtete, und dass die ganze Welt ihn für komplett unschuldig hält - allerdings weiß niemand, was er Schlimmes getan hat. Sollte er tatsächlich unschuldig sein, dann ist das alles ganz furchtbar. Ich kann mir allerdings kein Urteil darüber erlauben.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Tageszeitung Wedomosti.
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