Nationalismus in Russland

Leokadija Drobischewa. Foto: http://www.hse.ru/

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Leokadija Drobischewa, Leiterin des Zentrums zur Erforschung internationaler Beziehungen am soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, setzt sich anhand aktueller Studien ihres Instituts mit den verschiedenen Spielarten des russischen Nationalismus der Gegenwart auseinander.

Nationalismus ist ein mehrdeutiger Begriff. Im russischen Alltagsverständnis identifizierte man mit Nationalismus immer ein schlechtes Verhältnis zu Angehörigen anderer Nationalitäten und eine Überhöhung der eigenen. In der Stalinära galt das Streben nach der Vorrangstellung des eigenen Volkes als Inbegriff des Nationalismus.

Diese Spielart des Nationalismus lässt sich als ethnischer Nationalismus beschreiben, der immer schon politisch definiert war und programmatisch auf die Eroberung und Verteidigung der Macht einzelner Völker zielte. Beispiele hierfür sind der estnische und der lettische Nationalismus. Davon abzugrenzen ist der bürgerliche Nationalismus, das Streben nach Prosperität des eigenen Staates und die Verteidigung seiner Interessen.

Wenn Wladimir Putin sich als einen Nationalisten bezeichnet - in einer Gesprächsrunde sagte er kürzlich: „Ich bin auch ein russischer Nationalist, ich liebe das russische Volk und wünsche ihm nichts Schlechtes“ -, meint er den bürgerlichen Nationalismus. In früheren Reden sprach Putin über die Nation als Gemeinschaft von Bürgern. In seinem Artikel „Russland: die nationale Frage“ richtet er sein Augenmerk insbesondere auf die Russen, auch wenn er schreibt, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist. Hier gibt es zwei wichtige Aspekte. Nach Auffassung von Wladimir Putin sind die Russen die Garanten für die Kohäsion des Staates und bilden dessen Fundament. Das ist eine nachvollziehbare Annahme, schließlich bilden die Russen die Bevölkerungsmehrheit, die russische Sprache und Kultur sind dominant. Die Behauptung aber, die Russen seien das staatsbildende Volk ist fragwürdig, sind es doch laut Verfassung die Bürger, die den Staat bilden.

Die Entwicklung der russischen Nationalisten 

Mitte der 2000er Jahre setzte man Nationalisten mit den extrem fremdenfeindlich gesinnten Skinheads gleich. Die Bewegung selbst aber wurde wohl vom Militär- und Sicherheitsapparat kontrolliert. Gegen Ende der ersten Dekade des neuen Jahrtausends formierten sich neben den Extremisten, die mit gelegentlichen Aktionen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen, die sogenannten „Ideologen“ der Bewegung. Diese versammelten in ihren Reihen politische Aktivisten ganz verschiedener Couleur: Auf der einen Seite einen Dmitri Rogosin, bis heute Vorsitzender des Kongresses der russischen Gemeinschaften und treuer Gefolgsmann von Wladimir Putin, auf der anderen Nationalisten mit starken Verbindungen zu linken Kräften. Das sind Leute wie Sergej Baburin, die schon seit langem davon sprechen, dass das russische Volk vergessen wurde. Diese Überzeugung ergänzen sie um die üblichen Phrasen über die Völkerfreundschaft. Eine dritte Strömung bilden liberal gesinnte Nationalisten. Ein bekannter Vertreter dieser Gruppierung ist Alexej Nawalny. Einmal bezeichnet er sich als Nationalisten, ein anderes Mal als bürgerlichen Nationalisten. Seine Positionen waren allerdings immer von liberalen Werten getragen. Die vierte Fraktion im nationalen Lager ist als die radikalste zu bewerten. Nach ihren Vorstellungen sollte der russische Staat ein einheitliches Reich ohne nationale Republiken bilden.

"Russland den Russen"

Die Mehrheit der russischen Bevölkerung, so die verbreitete These, befürwortet die Losung „Russland den Russen“. Nach den uns vorliegenden Statistiken gab es Jahre, in denen dieser Forderung 58% der Bevölkerung zustimmten. Wir stellten unseren Fragen, um herauszufinden, was sich hinter dieser Phrase verbirgt. Die Frage etwa: „Sollten Russen bei der Vergabe von Hochschulplätzen oder Arbeitsplätzen bevorzugt werden?“ beantworteten nur 20% der Befragten positiv. Die Forderung „Russland nur den Russen“ befürworteten etwa 12%. Es ist davon auszugehen, dass diese Größenordnung das Maximum der Wählerbasis erklärter Nationalisten bildet.

Unser Institut veröffentlichte vor kurzem die Ergebnisse umfassender Erhebungen unter dem Titel „20 Jahre Reformen aus Sicht der Russen“. Dort werden die Ergebnisse repräsentativer Befragungen in Regionen mit russischer Bevölkerungsmehrheit präsentiert. Die Teilnehmer der Studie wurden gefragt, welche Probleme sie am meisten beunruhigen. Unter 20 möglichen Antworten waren die meistgenannten: die Krise der kommunalen Wohnungswirtschaft, der niedrige Lebensstandard, die geringer werdenden Chancen auf unentgeltliche Bildung. Sorgen wie etwa „Das Anwachsen der nichtrussischen Bevölkerung in russischen Gebieten“ und „Spannungen zwischen unterschiedlichen Nationalitäten“ nahmen den 12. bzw. 14. Platz ein. Weniger als ein Fünftel der Befragten stimmten ihnen zu. Die Interessen der russischen wie auch der nichtsrussischen Bevölkerung sind also nicht ethno-national definiert.

Die Zukunft des Nationalismus 

Die Politisierung der ethnischen Frage ist unübersehbar. In letzter Zeit nehmen neben demokratischen Orientierungen russisch-nationalistische Tendenzen am deutlichsten zu. Die Nationalisten aber sind nicht in einer Partei vereint. Die Mehrzahl der von ihnen gegründeten Vereinigungen erweist sich als unbeständig. In der russischen Bevölkerung wird der Nationalismus im übrigen auch deshalb keine Mehrheiten hinter sich bringen, weil die Russen immer viel Wert auf ihr Image gelegt haben, zu einem friedlichen Zusammenleben mit Angehörigen anderer Nationalitäten imstande zu sein. Selbst unter Bedingungen der Einwanderungswelle in den 2000er Jahren machte der fremdenfeindliche Bevölkerungsanteil nicht mehr als 30% aus. Heute haben allein dialogorientierte Ansätze zur Überwindung von Konflikten das Potential, die russische Nation zu festigen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Ogonjok.

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