Nuria Fatykhova bei der Gartenring-Aktion. Foto: Pauline Tillmann
Nuria Fatykhova trägt rote Handschuhe und gelbe Gummistiefel. In der Hand hält sie 200 weiße Bänder, die sie an Passanten verteilt. Es ist die letzte große Aktion vor der Präsidentschaftswahl am 4. März. An den Moskauer Gartenring sind 30.000 Menschen gekommen, um sich an den Händen zu halten – und um den Kreml zu umzingeln, als Symbol für den Widerstand gegen Putin und seine Gefolgsleute. Nuria Fatykhova ist freie Journalistin in Moskau, seit kurzem arbeitet sie für das deutsche Nachrichtenmagazin „Focus“. Ursprünglich kommt sie aus Tscheljabinsk am Ural. Vor einem Jahr ist sie nach Moskau gezogen, um für eine Wirtschaftszeitung zu arbeiten. Von Putin und Medwedjew ist sie enttäuscht und sagt: „Wir Russen sind ein stolzes Volk, aber wir haben schon lange nichts mehr worauf wir stolz sein können. Das Ausbildungssystem ist korrupt und unsere Gesundheitsversorgung eine einzige Katastrophe.“ Außerdem sei es schwierig einen guten Job zu finden – selbst in Moskau. Den Menschen fehle die Perspektive, deshalb gingen sie auf die Straße. Sie packt ihr zerkratztes Handy aus der dunkelblauen Stofftasche und ruft ihre Eltern an. Auch in Tscheljabinsk sind die Menschen an diesem Tag auf die Straße gegangen, bei minus 27 Grad.
Stabilität bedeutet: keine Entwicklung
Die 29-jährige Aktivistin sagt: „Putin beschwört immer den Mythos von Stabilität, aber Stabilität ist in Wirklichkeit: Stopp. Das heißt, es gibt keine Entwicklung – und Russland braucht Entwicklung.“ So sehen das inzwischen auch viele andere. In den letzten Monaten sind Hunderttausende in Russland auf die Straße gegangen, um ihrem Unmut Nachdruck zu verleihen. Die Passivität der letzten Jahre scheint verflogen. Immer wieder wird das Aufbegehren in Russland mit der arabischen Revolution verglichen. Die politischen Systeme in Ägypten und Russland sind zu verschieden, als dass man Parallelen ziehen könnte. Was aber ähnlich ist, ist die Rolle von Sozialen Medien. Facebook, Twitter und Blogs sind nicht der Ursprung des Unmuts, aber sie agieren als Katalysatoren. Auf den sozialen Plattformen tauschen die Demonstranten Informationen und Hinweise aus. Nuria Fatyhkova sagt: „90 Prozent meiner Facebook-Einträge handeln von Politik.“
Und auch die Arbeitsgruppe, in der sie sich engagiert, ist in Facebook entstanden. Die Arbeitsgruppe besteht aus 20 Aktivisten, die sich neue Protestformen ausdenken. Neue Protestformen wie die Menschenkette am Moskauer Gartenring. Die Demonstranten, das sind Menschen aller Schichten. Besonders auffällig sind die vielen modebewussten Hipster. Deshalb wurde die Protestwelle am Anfang „Hipster-Revolte“ oder „Revolte der Zufriedenen“ genannt. Nuria Fatykhova sagt: „Zu den Demos kommen auch Leute aus reichen Familien, die Geld haben und die trotzdem protestieren wollen. Im Grunde freut mich das, denn das bedeutet, dass es hip geworden ist zu protestieren.“
Wenn man die Menschen fragt warum sie auf die Straße gehen, kommen Antworten wie: „Wir wollen ehrliche Wahlen“, „Wir wollen eine andere Regierung“, „Wir wollen unsere Meinung frei äußern“ und „Wir denken, dass wir damit etwas bewirken können – nicht heute, nicht morgen, aber bald“. Mit den weißen Bändern demonstrieren die Putin-Gegner für saubere Wahlen, schließlich steht die Farbe Weiß symbolisch für Reinheit. Und auch wenn es so scheint: Die Russen waren nie wirklich apolitisch. Sie haben Fernsehnachrichten geschaut und politische Diskussionen am Küchentisch geführt. In den letzten Monaten ist die Unzufriedenheit aber immer weiter angewachsen, so dass der Unmut jetzt auch im öffentlichen Raum spürbar ist.
Wahlen ohne Wahl?
Nuria Fatykhova glaubt, dass der Protest nach der Präsidentschaftswahl am 4. März nicht abreißen wird – gerade weil klar zu sein scheint wer gewinnen wird. Dieses Mal wird es so viele ehrenamtliche Wahlhelfer geben wie nie zuvor, aber trotzdem geht die 29-jährige Journalistin davon aus, dass es erneut zu Wahlfälschungen kommen wird. Deshalb ist für den 5. März bereits die nächste große Demo in Moskau angekündigt. Und egal ob Wladimir Putin im ersten oder im zweiten Wahlgang gewählt wird, inzwischen gibt es ernsthafte Überlegungen, wonach es bald vorzeitige Neuwahlen geben könnte. Die Politikwissenschaftlerin Elena Belokurova von der Europäischen Universität in St. Petersburg sagt: „Ich glaube, Putin wird sich keine sechs Jahre an der Spitze halten können. Denn die Unterstützung schwindet nicht nur bei der Bevölkerung sondern auch bei den Oligarchen.“ Doch eine Regierung ohne Unterstützung im Volk kann es in einem demokratischen System nicht geben.
Wie die Zukunft in Russland aussieht, ist ungewiss. Gewiss ist, es sind spannende Zeiten angebrochen, und zwar nicht nur für Aktivisten wie Nuria Fatykhova. Sie wird sich weiter engagieren, denn sie sagt: „Ich will so sehr in einem guten Land leben, in einem neuen Land.“ Deshalb wird sie weiter weiße Bänder verteilen und kleine Zettel, auf denen steht: Der Mensch weiß nicht welche Kraft in ihm steckt.
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