In Sankt-Petersburg wird auch protestiert. Foto: Natasha Romanowa
Man hätte meinen können, die Präsidentschaftswahlen 2012 würden nach demselben Szenario ablaufen wie in den Jahren 2004 und 2008. Immerhin waren die Ausgangsbedingungen genau die gleichen: ein unangefochtener Favorit, mehrere Dauer-Gegenkandidaten der Opposition, dazu traditionell ein riesiger Medienauflauf und eine ebenso gewaltige administrative Rückendeckung, die voll und ganz dem Hauptkandidaten zuarbeiten.
Für oder gegen Putin? Russlands Kulturelite ist vor der Präsidentschaftswahl gespalten.
Doch die Protestwelle, ausgelöst durch Manipulationen bei den Wahlen zur Staatsduma, veränderte das gewohnte Bild radikal. Nach den Großkundgebungen stand außer Zweifel: Die Machthaber würden nicht mehr die übliche Präsidentschaftskampagne inszenieren können. Das bemerkenswerteste Ergebnis der Massenproteste bestand darin, dass diesmal für die Putin-Ära ungewohnte Formen des Wahlkampfes, wie etwa der „Krieg der Demos“ zum Einsatz kamen. Doch selbst auf die traditionelle Wahlkampfpropaganda hatte das Protestpotential des Bolotnaja-Platzes Auswirkungen.
Die Oppositionskandidaten befanden sich von Anfang an in einer zwiespältigen Lage. Einerseits musste ihnen ihr Selbsterhaltungstrieb eigentlich suggerieren, auf radikale Schritte zu verzichten und die Grenzen der komfortablen „konstruktiven Opposition“ nicht zu überschreiten. Andererseits konnten auch die systemnahen Oppositionellen die Stimmen der Protestwählerschaft vom Bolotnaja-Platz gut gebrauchen. Wenn schon nicht, um Wladimir Putin zu besiegen, so doch wenigstens, um ihr Prestige in den Augen der eigenen Parteigänger zu erhöhen. Letztendlich allerdings vermochten die Kandidaten der Oppositionsparteien es nicht, diese Ambivalenz zu überwinden.
So bezeichnete Gennadi Sjuganow, der Kandidat der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, die Teilnehmer der Protestkundgebungen auf dem Bolotnaja-Platz und dem Sacharow-Prospekt anfangs in Anspielung auf die ukrainische Revolution als „orangene Bedrohung“. Ebenso machte er während der Fernsehdebatten nicht konkret Wladimir Putin für sämtliche Übel, sondern hauptsächlich abstrakte „Gauner und Diebe“ verantwortlich. Doch je näher der Urnengang rückte, desto deutlicher klang eine radikale Komponente in den Wahlkampfauftritten des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten an. In einem Wahlspot Sjuganows ist neben bekannten Wissenschaftlern und Künstlern auch Sergej Udalzow, einer der Organisatoren der Bewegung „Für ehrliche Wahlen“ und Sprecher der „Linken Front“, zu sehen. Wobei sich Chefkommunist Gennadi Sjuganow im Fernsehen in der Rolle des respektablen Politikers gefiel und sein Wahlslogan „Man hat immer eine Wahl!“ durchaus Parallelen zu den Forderungen der „aufgebrachten Städter“ erkennen ließ.
Auch Wladimir Schirinowski, der Bewerber der Liberal-Demokratischen Partei, ist sich selbst treu geblieben, indem er auf Vollmundig-Spektakuläres setzte. In einem Wahlspot, der große Aufmerksamkeit fand, schlägt er mit der Peitsche auf einen vor einen Karren gespannten Esel ein und philosophiert dabei über Russlands Zukunft: „Was ist bloß aus uns geworden? Ein räudiger kleiner Esel! Wenn ich Präsident werde, gibt es wieder eine verwegene Troika!“ Wie gehabt, erklärte Schirinowski sämtliche anderen Präsidentschaftskandidaten außer Wladimir Putin zu seinen Hauptopponenten und bezichtigte nicht näher benannte Übeltäter, die Missstände im Lande verursacht zu haben. Doch letzten Endes erreichte der frische Wind des Bolotnaja-Platzes auch den Chef der Liberaldemokraten, seine Kritik an den Machthabern wurde deutlich harscher. So war Schirinowski bei mehreren Fernsehdebatten fast der Einzige, der nicht nur die Zentrale Wahlkommission mit Wladimir Tschurow an der Spitze, sondern auch Wladimir Putin direkt für mögliche Fälschungen bei den anstehenden Wahlen verantwortlich machte.
Im Falle von Sergej Mironow, dem Kandidaten der linkskonservativen Partei „Gerechtes Russland“, tritt das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen den Massenprotesten auf dem Bolotnaja-Platz und den Pro-Putin-Kundgebungen auf dem Poklonnaja-Berg wohl am offenkundigsten zutage. Während sich Mironow selbst als Musterbeispiel der Konstruktivität aufspielte, beteiligte sich Gennadi Gudkow, sein Stellvertreter in der Duma-Fraktion, an Aktionen der Bewegung „Für ehrliche Wahlen“. Bei den Fernsehauftritten Mironows spielte dieser Widerspruch allerdings kaum eine Rolle. Hier präsentierte er sich betont positiv und kritisierte weder Wladimir Putin noch die anderen Mitbewerber. Seine Wahlspots fielen deutlich weniger offensiv aus als die Videoclips, mit denen „Gerechtes Russland“ im Duma-Wahlkampf angetreten war und in denen Experten der Zentralen Wahlkommission sogar Anzeichen von Extremismus ausgemacht zu haben glaubten.
In der Wahlkampagne Michail Prochorows offenbarte sich die Ambivalenz von Anfang an auf einer anderen Linie. Im Zusammenhang mit diesem Kandidaten stritt die Öffentlichkeit nicht darüber, ob er nun für den Bolotnaja-Platz oder den Poklonnaja-Berg Partei ergreife, sondern hauptsächlich, ob Prochorow ein „Projekt des Kreml“ sei. Natürlich verneinte der Unternehmer derartige „rufschädigende Verbindungen“ kategorisch. Bei seinen Auftritten bezeichnete er sich als einzigen realen Herausforderer Wladimir Putins. Er erschien zweimal zu Veranstaltungen der Bewegung „Für ehrliche Wahlen“ und unterzeichnete mit der „Liga der Wähler“ eine Kooperationsvereinbarung zur Wahlbeobachtung. In Prochorows Wahlkampfpropaganda hingegen waren „Bolotnaja-Motive“ nur schwerlich herauszuhören.
Broschüre „Gott behüte!“ predigt Stabilität
Im Unterschied zu seinen Mitbewerbern musste sich Wladimir Putin nicht zwischen zwei Polen positionieren, war seine zentrale Zielscheibe bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Grunde doch der Bolotnaja-Platz. Auch über die Wahlkampfstrategie brauchte Putins Wahlstab wohl nicht lange zu grübeln. Man reanimierte ein Erfolgsrezept, das bereits dem Ex-Präsidenten der Russischen Föderation, Boris Jelzin, mehrfach geholfen hatte, die Schaffung eines Feindbildes. Nur dass damals die Feinde die Kommunisten gewesen waren, die „das Land in die finstere sowjetische Vergangenheit zurückzerren wollten“, während es jetzt, den neuen Zeichen der Zeit entsprechend, die „Orangenen“ sind, die die Bedrohung eines Rückfalls in die zerstörerischen 1990er Jahre heraufbeschwören.
Diese Gefahr wollen Putins Anhänger mit Wort und Tat bekämpfen. Ihre wichtigste Aktion besteht dabei zweifelsohne in der landesweiten Organisation einer Kampagne „Für Stabilität“ und „Gegen die orangene Bedrohung“. Teil der Strategie war die Verbreitung von 5,5 Millionen Exemplaren einer Wahlzeitung unter der Überschrift „Gott behüte!“. Wobei es sich bei diesem Slogan eigentlich um eine Kopie aus dem Jahre 1996 handelt. Damals malte eine identisch betitelte Publikation in einer Auflage von zehn Millionen den Russen das Armageddon des Kommunismus aus. Diesmal sollten sie offenbar mit der Gefahr einer Revolution in Angst und Schrecken versetzt werden.
Die Bewertung der „Orangenen“ und den Umgang mit ihnen hat Premier Putin höchstpersönlich vorgegeben. Während seines Fernseh-Liveinterviews am 15. Dezember 2011 hatte er die Demonstranten auf dem Bolotnaja-Platz mit den Banderlogs, den Paria-Affen aus Kiplings Zeichentrickfilm "Das Dschungelbuch" verglichen und das Symbol der Protestierenden, ein weißes Bändchen, abfällig als Präservativ bezeichnet.
Kein Vertrauen in Pro-Putin-Umfragen
Inwieweit der Propagandakrieg des Putinschen Wahlstabs gegen die virtuelle „orangene Bedrohung“ Wirkung gezeigt hat, ist offen. Einerseits wachsen, will man den Meinungsforschern Glauben schenken, seit Mitte Dezember 2011 die Ratingwerte des Premierministers stetig. Andererseits sind sich manche Experten keineswegs sicher, dass der Ausgang der Abstimmung bereits feststeht, zumindest nicht im Hinblick auf die Möglichkeit einer zweiten Wahlrunde.
Mit ihren Protesten hat die Anti-Putin-Bewegung Standhaftigkeit bewiesen. Doch auch der unliebsame Präsidentschaftskandidat mobilisiert seine Anhänger.
So vertritt der Politologe Alexander Kynew die Überzeugung, die aktuelle Wahlkampagne besäße im Unterschied zu den Präsidentenwahlen der Jahre 2004 und 2008 nach wie vor eine gewisse Unwägbarkeit. „Wir sehen keine besondere Aktivität der Kandidaten, aber die reale Einstellung der Bevölkerung zu dem Mann, der das politische Regime verkörpert, ist eine andere geworden“, erklärte Kynew gegenüber der Wochenzeitung „Wlast“. „Sowohl 2004 als auch 2008 zweifelte niemand daran, dass es nur einen Wahlgang geben würde. Diesmal ist alles anders. Vieles wird vom Einfluss des administrativen Rückhalts einerseits und der Protestwählerschaft andererseits abhängen.
In Fachkreisen sind allerdings auch andere Ansichten zu hören. So geht Jewgeni Mintschenko, Direktor des Internationalen Instituts für politische Expertise, davon aus, dass sich wie in den drei vorausgegangenen Präsidentschaftskampagnen „die Oppositionskandidaten nicht die Aufgabe stellen zu siegen“. Mintschenko ergänzt, es sei schwierig, die Gründe dafür hundertprozentig festzumachen, doch seiner Vermutung nach gäbe es eine gewisse Übereinkunft mit dem Kreml. „Sie besteht darin, dass keiner der Kandidaten zu siegen versucht. Vielleicht haben sie aber auch einfach nur kein Vertrauen in die eigene Kraft.“
Dieser Artikel erschien zuerst bei der Zeitschrift Kommersant-Wlast.
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