Die Schlange am Eingang vor der russischen Botschaft in Berlin am Wahlsonntag. Foto: Olga Waulina
Die Bilder prägten sich ein: Zehntausende demonstrierten mit wehenden Fahnen, überzeugt, dass die Kreml-Partei Einiges Russland die Duma-Wahlen am 4. Dezember 2011 gefälscht hat. Es waren die größten Proteste seit langem. Nun wurde wieder gewählt, aber nicht erneut die Duma, sondern der Präsident.
Tausende Russen aus Berlin und Brandenburg wählten in der Botschaft Unter den Linden. In langen Reihen standen sie an, selbst Wahlorganisatoren überraschte ihre Anzahl. Die Massen, die „Für Freie Wahlen in Russland“ aufrufen, zeigen verstärkt, dass das Brodeln im größten Flächenstaat der Erde auch in Berlin sicht- und spürbar ist.
Gleich der Erste, den ich frage, ist der Ansicht, dass die hier lebenden Russen meistens Michail Prochorow, den erst vor kurzem in die Politik gegangenen Multimilliardär, wählen würden. Ein anderer widerspricht, er habe zum ersten Mal Putin gewählt. Früher wäre das für ihn unmöglich gewesen, sein Stil gefalle ihm nicht. „Aber er ist doch der Einzige, der etwas für die einfachen Menschen tut. Meine Eltern sind Rentner in Tomsk. Unter Putin werden die Renten regelmäßig gezahlt.“
Leninstatuen bekommen Nachbar
Im Inneren des Gebäudes ist von Protest und Brodeln wenig zu spüren.Viele fotografieren, es ist ein wenig wie in einem Museum. Das heutige Gebäude entstand in den ersten Jahren der DDR, wurde am 7. November 1952 eröffnet und ist im Stil des „Sozialistischen Klassizismus“ mit Säulen und Kronleuchtern, Kuppelsaal und Glasmosaiken bestückt. Der Ort allerdings ist schon lange mit deutsch-russischer Geschichte verbunden. Bereits im alten Preußen war hier die russische Vertretung; sie ging unter im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs.
„Hier hat sich nichts verändert, der rote Stern leuchtet noch immer in den Mosaiken“, meint ein älterer Herr, der das Gebäude seit den 1980er Jahren kennt. Ich weise auf die Gedenktafel für den Ausnahmediplomat Alexander Michailowitsch Gortschakow, der zuerst mit Otto von Bismarck übereinstimmte und sich dann wandelte zu einem seiner großen Gegenspieler. „Das ist in Russland genauso. Die Leninstatuen stehen noch, aber er bekommt Gesellschaft von neu installierten Zarendenkmälern.“
Bis auf wenige ältere Menschen, die sich nicht befragen lassen wollen, höre ich von anderen viel Kritisches über heute, aber ihnen steckt der Niedergang der 1990er Jahre noch in den Gliedern. „Ja, Putin hat das Land stabilisiert“, konzediert eine resolute Dame mit Hut, „aber nach zwölf Jahren muss es Veränderungen geben. Die meisten haben nichts gegen Putin, aber er muss endlich lernen, wann Schluss ist. Die Menschen sind auf die Straßen gegangen. Und einfach so weiter machen wie bisher, das wird nicht gehen, selbst wenn er noch einmal Präsident wird.“
Ganz vorn auf der Agenda der Berliner Russen steht die geplante Aufhebung der Visumpflicht. Allerdings spöttelt eine Blondine: „Das ist keine gute Idee, ich kenne meine Leute. Wenn zu viele hier herkommen und für weniger Geld arbeiten als ihr, dann kann das unsere Beziehung verschlechtern.“
Faire Wahlen? Nicht alle denken so.
Als ich die Botschaft verlasse – die Schlangen vor dem Gebäude haben sich aufgelöst, nur noch Einzelne gehen wählen – meint eine Wahlbeobachterin, in Berlin führe tatsächlich Michael Prochorow knapp vor Wladimir Putin. Zu Hause angekommen, erfahre ich, dass Putin schon im ersten Wahlgang gewonnen hat, etliche Manipulationen seien aufgedeckt, scheinen jedoch nicht wesentlich zu sein. Aber wir werden bald wieder Protestierende in Moskaus Straßen sehen.
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